Samstag, 26. Januar 2019

Große Überraschung

Handkolorierte Abbildung aus J.J. Grandville (1803-1847): “Un Autre Monde” (1844). Die deutsche Ausgabe des Buches erschien 1847 unter dem Titel “Eine Andere Welt” in Leipzig und befindet sich in meiner Bibliothek. Grandville gilt als “Großvater der Surrealisten”, die von seinen Bildideen hingerissen waren. Auch mich hat er zu einigen Gedichten angeregt, wie das Bespiel zeigt.



Jürgen Schwalm

Große Überraschung

Die herrliche Kometin
hat Ausgang auf der Milchstraße
und präsentiert die prachtvolle Schleppe

Herr Doktor Windhebel
der Schlüsselloch-Astronom
riskiert einen Teleskop-Blick

Da lupft das Wandelgestirn
ganz ungeniert
den intimsten Nebel
und zeigt ihm
das All im Nichts


Aus: Vernissage (Bilder einer Ausstellung)
 
 
 
 



Samstag, 19. Januar 2019

Hedwig Dragendorff: An den Mond


Jürgen Schwalm: “Der Mond über der Stadt”, Hinterglastechnik, 2018

Hedwig Dragendorff

An den Mond

Schweigender Wandler der Nacht, dir Mond mit silbernem Strahle,
Dir ertöne mein Lied, dich erheb’ mein Gesang.
Musen, euch flehe ich an: senkt der Begeisterung Klänge,
Senkt in die Brust sie mir ein, rasch sie gestaltend zum Wort.
Doch, was singe ich gleich? Sing’ ich den reizenden Schimmer,
Den du, verscheuchend die Nacht, über die Erde ergießt?
Wohl, ihm weih ich mein Lied; füllt er so oft doch mit Wonne,
oft auch mit süßem Weh mir das sehnende Herz,
Küßt mit dem Strahle die Thrän’, die sich im Auge gesammelt,
Kehrend in seeliges Glück oft das bitterste Leid. –
Viele begrüßen dich laut, dich Mehrer der glücklichen Stunden;
Lösen den schaukelnden Kahn, froh sich vertrauend der Fluth,
Welche, von Luna beglänzt, sie trägt auf schimmernden Wellen,
Tausendfach spiegelnd ihr Bild, über sie gleitend dahin.
Zeige auch heute dich uns, ohn’ neidische Wolkenumhüllung:
Froh wird dich singen mein Lied, schallend in’s nächtliche Feld. –


Diese Zeilen schrieb meine Ur-Urgroßtante Hedwig Dragendorff (1807-1896) am 19. Februar 1826 in Brüsewitz, wo sie von 1825-1835 als Erzieherin von Adolf Friedrich Graf von Schack (1815-1894) tätig war. Schack war Schriftsteller, Übersetzer und Förderer von Malern; er begründete die nach ihm benannte Schack-Galerie in München, wo er der Dichter-Vereinigung „Die Krokodile“ angehörte und u.a. mit Emanuel Geibel zusammentraf. Hedwig Dragendorff blieb ihm lebenslang freundschaftlich verbunden. Auch den Mond-Gesang hat sie für ihn geschrieben.
Dass eines Tages Flugkörper auf dem „Wandler der Nacht“ landen würden, konnte sie sich noch nicht vorstellen. Frau Luna durfte noch mit silbernem Strahle die Dichter der Romantik verzaubern und meine Tante Hedwig auch, die selbst darüber erstaunt war, dass ihr das Lied an den Mond gelang, wie sie in ihren Memoiren berichtet.
Vier Generationen nach Tante Hedwig bin ich zwar brennend an den Forschungsergeb-nissen interessiert, die über unseren Mond zusammengetragen werden, möchte mich aber gerne auch weiterhin an Vorstellungen, Märchen und Sagen erinnern dürfen, die meine Kindheit bereicherten. Damals war der Mond der gute Hirte, der über mich wachte. Ich malte ihn einst mit silberner Tusche auf schwarzem Karton. Auf meinem Bild „Der Mond über der Stadt“, mit dem ich an meine Tante Hedwig erinnern möchte, glänzt er aus Goldpapier.



Jürgen Schwalm






Samstag, 12. Januar 2019

Der französische Park im Barock

Jürgen Schwalm: “Die Memoiren der Rose”, Fotostudie, 2017


Jürgen Schwalm

Der französische Park im Barock

Französische Gartenanlagen boten das Wege-Parkett für geschliffene Dialoge; die verzwickten Labyrinthe waren für infame Intrigen und spitze Duelle geeignet; die geometrischen Muster der Beete für diplomatische Schachzüge, die gestutzten Boskette für das höfische Protokoll.
Rauschende Fontänen waren eifrige Plaudertaschen, jede Konversation wurde an die andere verraten. Dieser Landschaft, wo die Natur parfümiert wurde und die Künstlichkeit triumphierte, blieben keine menschlichen Laster erspart, obgleich (oder weil?) so viele Götterbilder aus den Kulissen schielten. Unter dem Goldflitter der Sonne und dem Silberlametta des Mondes, die den Etat, dem Himmel sei Dank, nicht belasteten, parodierte der Park die Welt des Monarchen, der unter seinen Laubkronen immer ernst blieb und noch nicht einmal zu bemerken vorgab, dass er auf diesem Heckentheater die Hauptrolle spielte. Denn wer über sich lacht, stellt sich selbst in Frage. Erst viele Jahresringe später sprengte die französische Flora ihre aristokratischen Fesseln in einer gewaltigen botanischen Revolution. Danach war sie wieder tugendhaft. Sie wuchs zu einem neuen Park zusammen – jetzt allerdings zu einem englischen.

(aus Therese Chromik und Bodo Heimann: Poetische Gärten, Husum 2008)






Samstag, 5. Januar 2019

Haithabu

Jürgen Schwalm: Wasserspiegelung an der Schlei (Fotostudie)


Meiner Frau
Christel Schwalm
in memoriam
5.12.1930 – 2.1.2018


Haithabu

Durch das Fenster der alten Kate sehe ich auf die Schlei.
Gegenlicht, Blendung.
Die Möwen kommen über das Wasser zurück; der Fluchtpunkt 

ihrer Bahn liegt bei Haithabu, der untergegangenen Stadt, und die Schiffe, 
die dorthin ihre Segel setzten, sind auch versunken.
Aber ich habe sie noch gesehen in Gegenlicht und Blendung.
Viel früher war ich schon da, als das Eis zurückwich vom Nordland.

Als ich Fischer war und mein Boot hatte, Harpunen und Fische.
Ich hatte nur wenige Worte, aber mein einfaches Leben füllte 

diese Worte aus.
Ich sagte: Wasser, Hunger, Frau.
Ich sagte: Heute, morgen, viele Tage.
Gab dir die Bernsteinkette, auf einen Lederstreifen gezogen:
Sieben Kugeln, trüb, ungeschliffen, mein ganzer Besitz.

Ich starb, versank, lag verschollen im Bootsgrab.
Du trugst dein Schicksal weiter mit meiner Kette.
Dein Herz blieb in der Welt, dein Puls schlug weiter durch die Zeit, 

Jahrhunderte, die ich in der Tiefe blieb.
Bis die Möwen wieder über das Wasser zurückkamen, in Gegenlicht und Blendung.
Durch das Fenster der alten Kate sehe ich auf die Schlei.
Ich habe jetzt zu viele Worte und fülle sie nicht mehr mit Leben aus.
Ich sag zu allem nur noch nie, nie, nie.
Aber du stehst wieder hinter mir, legst die Hände auf meine Schultern 

und antwortest lächelnd: Nie mehr nein und nie mehr nie.
Aus Nimmermehr wird Immermehr.


Jürgen Schwalm