Freitag, 27. März 2020

Die Verpuppung

Jürgen Schwalm: “Papillon und Pusteblume”, Fotostudie, 2016

Jürgen Schwalm

Die Verpuppung

Die Corona-Krise verwandelt die Menschheit zu Insekten. Nach Ansammlung von Vorräten zum Nahrungsbedarf und zur Beseitigung der Stoffwechselprodukte wird die Menschheit wie die Kerbtiere der Metamorphose unterzogen.
Augenblicklich befindet sich die Menschheit im Stadium der Verpuppung. Jeder wartet, tief im Kokon, dass eines Tages die isolierende Hülle aufreißt und dass er unbeschädigt schlüpfen kann. Ich glaube aber nicht, dass dann nur hübsche, bunte, harmlose Schmetterlinge ihre Flügel entfalten werden, um in eine sonnige Zukunft zu flattern. 



Freitag, 20. März 2020

Das Mirakel

"Jürgen Schwalm: “Dieser Engel mausert sich”, Assemblage, 2016"  


Jürgen Schwalm

Das Mirakel

Als ein Engel beim Tedeum mit den Flügeln schlug, verlor er eine bunte Feder. Hochwürden entdeckte sie vorm Altar. Er rief: „O Wunder über Wunder!“ und schickte sie nach Rom zum Heiligen Vater.
Hochwürden war längst alt und grau, und zwei Päpste waren mittlerweile verschieden, als er endlich Antwortpost vom Vatikan erhielt. Der Brief war lang, wie sich denken lässt. Hochwürden benötigte viel Zeit, um ihn zu lesen.
Die Schlusssentenz des Briefes lautete: „Es steht fest, dass Engel sich nicht mausern können. Infolgedessen kann die zugesandte Feder weder ein Engel der unteren Rangstufe verloren haben noch ein Seraph oder Cherub aus der oberen Hierarchie der himmlischen Heerscharen. – Die Feder stammt vielmehr von einem Paradiesvogel.“
Hochwürden aber dachte: „Ei, sieh da! Selbst wenn mein Engel aus kirchlicher Sicht nur ein Vogel gewesen sein soll, so kam er doch aus Himmelshöhen vom Paradies herabgeflogen; hieße er sonst wohl Paradiesvogel?“
Mit dieser Auslegung konnte der Vorgang beim Tedeum für Hochwürden ein himmlisches Mirakel bleiben. Unsere oberen Seelenrichter gönnen uns eben die Wunder nicht, die wir sehen, und sie erkennen die wahren Engel unter den Menschen nie.

(aus: Der Lebens-Baum, Betrachtungen, 2005)



Samstag, 14. März 2020

Engel und Teufel

Jürgen Schwalm:
Das Koordinatensystem der Hölle,
Fotostudie, 2016









  Jürgen Schwalm

Engel und Teufel



Längst müssen die Teufel den Engeln ihre Attribute abgegaunert und die Pferdefüße  gegen die Flügel umgetauscht haben. Sonst wäre es nicht möglich, dass die Teufel  in Windeseile alle Zonen überfliegen können, die die Engel im Hinkeschritt nie   erreichen, mögen sie auch noch so laut „Halleluja“ rufen.

(aus: Der Lebens-Baum – Betrachtungen)






Freitag, 6. März 2020

Vortrag über den Roman "Jahrestage" von Uwe Johnson am 03.03.2020

Jürgen Schwalm: Lübeck, Marienkirche und Dom,
Hinterglasmalerei, 2019

Am 3. März 2020 hielt Prof. Dr. Roland Berbig (Berlin) in der Lübecker Gemeinnützigen Gesellschaft einen Vortrag über den Roman „Jahrestage“ von Uwe Johnson. In der Begrüßungsrede führte Dr. Jürgen Schwalm u.a. aus:

…ich freue mich, für den Lübecker Autorenkreis, dem ich als wohl ältestes aktives Urgestein angehöre, als Referenten des heutigen Dienstagsvortrags Herrn Professor Berbig, begrüßen zu dürfen. Dabei möchte ich nicht die Gelegenheit verpassen, darauf hinzuweisen, dass die im Revolutionsjahr 1789 gegründete Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Thätigkeit –so ihre offizielle Bezeichnung- die erste Gesellschaft war, in der von Anfang an regelmäßige Veranstaltungen und Gespräche zu und über literarische Themen stattfanden. Und der altehrwürdige Saal, in dem wir heute sitzen, ist längst auch in der Weltliteratur verankert. Im Roman „Doktor Faustus“ hat Thomas Mann den Saal zwar nach Kaisersaschern verpflanzt, aber Kaisersaschern bleibt Lübeck; und hier durfte im Roman zum Beispiel der Musikwissenschaftler mit dem hübschen Namen Wendel Kretzschmar der Frage nachgehen, warum Beethoven für seine Klaviersonate Op. 111 keinen Schlusssatz komponiert hat. Ich empfehle durchaus, diese Passage, wo wir heuer das Beethovenjahr feiern, noch einmal nachzulesen.
Heute geht es aber nicht um ein musikwissenschaftliches Thema, sondern um Literatur, nämlich um einen Autor meiner Generation, um Uwe Johnson und seine Gesine Cresspahl, oder besser ausgedrückt, um Roland Berbig und seine Gesine Cresspahl...
Über Uwe Johnson hat Roland Berbig zwei wichtige Publikationen herausgegeben, darunter den Band „Wo ich her bin“, Uwe Johnson in der DDR, Berlin 1993.
Dieser mit Erdmut Wizisla herausgegebene Sammelband wurde in der ZEIT von Rolf Michaelis ausführlich rezensiert, wobei auch die Stellungnahmen von Günter Grass zitiert werden, der sein Verhältnis zu Johnson mit den Worten definierte: „Distanz, heftige Nähe, Fremdwerden und Fremdbleiben“ und:„Johnsons Schreibweise war für die ostdeutsche Leserschaft konzipiert. Dieses Publikum war in der Lage, verdeckte Anspielungen zu verstehen. Eine ganze Generation ist in der DDR um einen wichtigen Autor betrogen worden – zur Kenntnis und zum Verständnis des eigenen Landes“.-
Meine Generation hat sich seit den 60ger Jahren mit der Lektüre der Werke Johnsons beschäftigt. Viel ist über ihn publiziert und viel auch über ihn gemutmaßt worden, um den Titel der ersten Publikation Johnsons zu parodieren (Mutmaßungen über Jakob). Wie ist das aber heute? Ich habe vor einer Woche, exakt am 24. Februar, in der größten Lübecker Buchhandlung nachgefragt und die deprimierende Antwort erhalten, dass dort kein einziges Werk von oder über Johnson vorrätig ist…

Nach dem Vortrag von Roland Berbig sagte Jürgen Schwalm: Vielen Dank, lieber Roland Berbig. Das war ein temperamentvoller, engagierter Vortrag, von profunder Kenntnis der Materie getragen und von –so möchte ich es formulieren- musikalisch beschwingtem Aufbau. Sie haben uns an der Schöpfungsgeschichte des Romans „Jahrestage“ teilnehmen lassen….Dieser Roman ist eine umfassende Zeitchronik, in der Gestaltung wesentlich moderner und gewagter als der erwähnte Roman „Doktor Faustus“ von Thomas Mann…