Donnerstag, 30. Dezember 2021

Ein Rosenwunder zum Jahreswechsel

Jürgen Schwalm: Der Blick durch das Fenster, Collage, 1977
 

Liebe Freundinnen und Freunde!

Als ich am 24. Dezember morgens in meinen Garten sah, entdeckte ich freudig erstaunt, dass mitten in Eis und Schnee eine gelbe Rosenblüte aufgegangen oder, wie es in einem alten Weihnachtslied heißt, „entsprungen“ war. Die Rosensorte, die sinnigerweise „Candlelight“ heißt, steht schon fünfzehn Jahre vor meinem Fenster. Dass sie sich, nachdem sie den ganzen Sommer hindurch verschwenderisch geblüht hatte, nun noch einmal zu Weihnachten entschloss, eine Blüte zu entwickeln, bewegte mich sehr. Da stand die Blüte wie eine Flamme im tiefen Winter und zeigte mir, dass man den Mut zu leben und zu überleben nie verlieren soll, mögen die Verhältnisse auch noch so widrig sein. Deshalb bleibt zuversichtlich und lasst Euch nicht von düsteren Orakeln täuschen. Öffnet die Fenster und schaut optimistisch in die Zukunft. Zuversicht und Lebensmut wünscht Euch für das Jahr 2022

Euer Jürgen = Jorgos

 

 

 

Freitag, 17. Dezember 2021

Der Eichelhecht

Jürgen Schwalm: „Der Flügel des Eichelhechts“. Assemblage (2021) unter Verwendung eines Hinterglasbildes von Jürgen Schwalm: „Der grüne Traum“ (2007)

 

Der Eichelhecht

Die Bücher von Axel Hacke: Im Bann des Eichelhechts und andere Geschichten aus Sprachland und seine Handbücher des Verhörens um den weißen Neger Wumbaba (eigentlich: „der weiße Nebel wunderbar“ = Textzeile aus M. Claudius „Der Mond ist aufgegangen“) sind erholsame linguistische Spaziergänge auf drolligen Ab- und Nebenwegen. Der Sammler und Interpret Axel Hacke hat jahrzehntelang zahllose Beispiele fehlgehörter, fehlgedeuteter oder fehlübersetzter Wortfolgen aus Texten, Speisekarten, Gebrauchsanweisungen, Gedichten und Liedern zum eigenen Gaudium und zur Freude seiner begeisterten Leser zusammengetragen, die ihn unermüdlich mit weiteren Beispielen belieferten.  Solche Kuriositäten konnten nicht erfunden werden, sie sind so schön, dass sie wahr sein müssen. Derartige Bücher dürfen nicht analysierend besprochen werden, sie möchten vielmehr in heiteren Stunden wie Delikatessen genossen sein.

Für zahlreiche Wort-Fehldeutungen, die der Autor zusammengetragen hat, wird der Leser in der eigenen Biografie ähnliche Beispiele finden.

Als ich ein kleiner Junge war, steckten für mich in den Texten der Weihnachtslieder besonders viele sonderbare Wortfolgen, zum Beispiel Hosianna in der Höhe. Das Wort Hosianna konnte ich mir überhaupt nicht erklären, aber ich brachte es mit unserer Waschfrau Anna in Verbindung, die außer der sonstigen Schmutzwäsche auch meine Hosen in einem Kellerraum, in der Waschküche, wusch. Also krähte ich mit heller Kinderstimme: Hosen-Anna in der Höhe. Zwar arbeitete Anna sonst im Keller, aber warum sollte sie zu Weihnachten denn nicht auch einmal in der Höhe meine Hosen waschen?

Wieso meine Geschwister andächtig sangen Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart, war mir damals schleierhaft, denn wie konnte eine Rose fortspringen, die doch fest am Ast saß? Ich sang immer Es ist ein Ross entsprungen mit einer Wurzel zart, denn dass Pferde weglaufen und gerne Mohrrüben fressen, hatte ich selbst beobachtet.

Zum Schluss eine Frage: Haben Sie schon einmal den Eichelhecht gesehen? Oder handelt es sich bei diesem Hecht um einen Eichelhäher, der sich im Sprachland verflog?

 

Allen, die mir mit Rat und Tat zur Seite stehen, wünsche ich mit herzlichem Dank

ein frohes Weihnachtsfest!
 
Jürgen Schwalm

 

 

 

Freitag, 10. Dezember 2021

Das Ei des Kolumbus


 

Spricht man vom Ei des Kolumbus meint man eine verblüffend einfache Lösung für ein unlösbar scheinendes Problem. Die Geschichte dazu ist folgende: Christoph Kolumbus wurde nach seiner Rückkehr aus Amerika während eines Essens bei Kardinal Mendoza 1493 vorgehalten, es sei ein Leichtes gewesen, die „Neue Welt“ zu entdecken; dies hätte schließlich auch jeder andere schaffen können. Daraufhin verlangte Kolumbus von den anwesenden Personen, ein „gekochtes Ei auf der Spitze aufzustellen“. Trotz vieler Versuche gelang es keinem, die Aufgabe zu erfüllen. Man war schließlich davon überzeugt, dass es sich um eine unlösbare Aufgabe handelt, und Kolumbus wurde aufgefordert, es selbst zu probieren. Dieser schlug das Ei mit der Spitze auf den Tisch, so dass diese leicht eingedrückt wurde und das Ei stehen blieb. Als die Anwesenden protestierten, dass sie das auch gekonnt hätten, antwortete Kolumbus; „Der Unterschied ist, meine Herren, dass Sie es hätten tun können, ich hingegen habe es getan.“

Die Anekdote wird in den Reiseberichten über die Entdeckung Amerikas von Theodor de Bry (geb. 1528 in Lüttich, gest. 1598 in Frankfurt am Main) wiedergegeben (im 5. Kapitel des 4. Buches); daraus stammt auch der Kupferstich oben (Foto: Jürgen Schwalm).

Eine schöne Geschichte vom Ei des Kolumbus erzählte Anton Kippenberg (1874 -1950), der von 1905 bis zu seinem Tod den Insel-Verlag leitete, in seinem 1936 erschienenen Erinnerungsband „Geschichten aus einer alten Hansestadt = Bremen“.- Mein Vater Hans Schwalm, der aus Bremen stammte, hat sie mir oft vorgetragen; ich gebe sie hier mit seinen Worten wieder:

Dor wär mol ’n Koptein, de heet Klumbumbus, un de kunn Eier ston loten. Eens Dags sä de König von Sponien to em: „Du, Klumbumbus, go mol hen un entdeck mi mol Amerika“.- „Dat will ick woll doon“, sä Klumbumbus, „denn must du mi ober dree Schippe gewen.“ – De gääf em de König, un dor seilte Klumbumbus los. No Stucke sess Weeken sä’n de Schippslüe to Klumbumbus: „Sünd wi denn ümmer noch nich in Amerika?“ – „Nee“, sä Klumbumbus, „dat Ei steit noch nicht.“ – No acht Dägen keemen se wedder: „Wi hefft nu keen Lust mehr; wo lang schall dat noch duern, dat wi in Amerika sünd?“- „Tööft man noch’ beten, dat Ei steit ümmer noch nicht“, sä Klumbumbus. Up eenmal reep de Schippsjung van boben uut den Mars: „Land! Land!“ - Dschä“, sä Klumbumbus, „nu steit dat Ei ook! “ -  Un als se an Land gungen, dor keemen vele Minschen anlopen, un Klumbumbus frog se: „Is dat hier Amerika?“ – „Dschawoll“, sä’n se.- „Denn sünd dschi woll Amerikoners?“ -  „Dscho, wi sünd Amerikoners. Un denn büst du woll Klumbumbus?“ – „Dat bün ick“, sä Klumbumbus.- Dor keken sich de Amerikoners an un sä’n to’nanner: „Dann helpt dat nich, denn sünd wi entdeckt.“

Jürgen Schwalm

 

 

 

 

Freitag, 3. Dezember 2021

Schungit


 

Bilderklärung:

Die hervorragende Lyrikerin Else Lasker-Schüler (1869-1945) schrieb in ihrem Gedicht „Pablo“: Oder es geht dir eine seltene Freude auf: Deines Herzens schwarze Aster. Mit dem Herzen verbindet man eigentlich die Farbe Rot, aber in meiner Mineraliensammlung befindet sich auch ein schwarzes Herz (1). Es wurde aus Schungit (Schungit nach dem Fundort Schunga in Karelien / Russland) geschliffen und stammt auch aus Schunga. Schungit ist ein schwarzes Gestein präkambrischen Alters, das bis zu 98 % aus Kohlenstoff besteht und sich vor mindestens 600 Millionen Jahren vermutlich aus Meeresalgen-Faulschlamm bildete. - Anthrazit ist eine Steinkohle, deren flüchtige Bestandteile unter 10% liegen bei einem Kohlenstoffgehalt von 91,5%. -  Die Steinkohle mit dem Farnabdruck (2) stammt von Skidmore Vein /Pennsylvania, das Karbonmaterial mit Pflanzenteilen (3) aus Wanne-Eickel Ruhrgebiet, die Stufe mit dem Abdruck von Sigillaria elegans (4) aus der Zeche Kaiserstuhl I Dortmund, der weiße Farnabdruck (5) auf dem Ölschiefer von St. Clair / Pennsylvania.-  Gagat (Jett, Pechkohle) ist fossiles Holz in einem Übergangsstadium von der Braunkohle zur Steinkohle; das Material wurde früher viel zu Trauerschmuck verarbeitet. Die abgebildeten Stufen 6 und 7 stammen aus Tkibuli /Georgien. – Zur Kohlenstoffgruppe gehört auch der Diamant; er ist eine kubische Modifikation des Kohlenstoffs. Abgebildet ist das Modell des „Jonker“ (8), der am 17. Januar 1934 in der Elandsfontain Mine / Südafrika von dem Bauern Johannes Jacobus Jonker gefunden wurde. Der Rohdiamant wog 726 Karat (= 145,2 Gramm; Werteinschätzung 1968: 4 Milliarden DM) und ergab 13 Steine bester Qualität. – Eine Kuriosität ist der Steinkohlen-Würfel (9) mit den Prägungen „Glück Auf!“ und „BORSIGWERK 22.10.1901“. August Julius Albert Borsig (1829-1878) schuf 1862 das Borsigwerk in Oberschlesien zwischen Gleiwitz und Beuthen (Eisen- und Stahlwerk und Kohlenzeche Hedwigswunsch und Ludwigsglück). Zu welchem Anlass der Würfel produziert wurde, konnte ich nicht mehr eruieren. Aber vielleicht kann mir ein Blog-Leser weiterhelfen? Das Vegetationsbild aus der Steinkohlenzeit im Hintergrund stammt aus dem Buch von Henry und Robert Potonié: „Die Steinkohle“, Reclam Leipzig 1921.

Meine Sammlung von Mineralien und Versteinerungen wurde von meinem Urgroßvater, dem Pharmazeuten Georg Dragendorff (1836-1898), in der Mitte des 19. Jh. angelegt und von mir im Laufe meines Lebens beträchtlich ergänzt und bereichert.

 

Jürgen Schwalm

 

 

 

Freitag, 26. November 2021

Konstantin III

Charoit. Charoit ist ein Kettensilikat, benannt nach dem Fluss Chara (Tschara), an dem das seltene Mineral zuerst gefunden wurde. Chara ist ein Nebenfluss der Oljokma. Jakutsk, Sibirien, Russland. – Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm

 

Jürgen Schwalm

Konstantin III

 

Wir waren durch die Nacht geflogen

und endlich in dem Lande angelangt,

das vielen unerreichbar ist,

jedoch uns beiden traumvertraut.

Wir schlossen mit den Lippen unsre dunklen Wunden.

Es kam der Augenblick, der uns so reich beschenkte.

Wir waren plötzlich frei

und sprachen nur noch unverstellte Worte,

und trugen fortan unser Mal mit Stolz. 

 

 

 

 

Freitag, 19. November 2021

Konstantin II

Tigerauge (Quarz-Varietät mit Krokydolith-Fasern), Treseburg-Thale / Harz. Bewegt man den geschliffenen Stein unter einer Lichtquelle, leuchtet er gelb-bräunlich mit seidigem Glanz auf, ein Phänomen, das in der gemmologischen Fachsprache „chatoyieren“ heißt (abgeleitet von „chatoyer“ = französisch: schimmern). – Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm

 

Jürgen Schwalm

Konstantin II

 

Wir nahmen uns in Acht,

wo ohnehin der blendend helle

Meereshorizont uns streng zur Ordnung rief.

Die Möwen kreisten über uns

und drohten mit Verrat.

Als du es dennoch wagtest,

mir deine Liebesbotschaft zuzurufen,

trieb sie der Wind davon.

Da kauertest du dich hin am Ufersaum

und schriebst die Worte mit dem Finger in den Sand.

Die nächste Welle kam jedoch zu früh

und löschte das Vermächtnis aus.


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Samstag, 13. November 2021

Konstantin

Die Erde hat ihren Himmel in sich selbst und ihre Sterne sind die Mineralien (Paracelsus). Septarie mit Markasit-Einlagerungen, Friedland / Brandenburg. – Sammlung und Foto von Jürgen Schwalm

 

Jürgen Schwalm

Nihil pluriformius amore

In memoriam Konstantin (1932-1974)

 

Konstantin

 

Flackernde Rhythmen hatten mich angezogen.

 Als ich den Raum betrat,

streiften mich die Spotlights deiner Raubtieraugen,

wehte die Fahne deiner Haare

in lodernden Flammen,

feuertest du den hellen Schrei einer Trompete

als leuchtendes Geschoss auf mich ab.

Wir hatten uns sofort erkannt.

Ich fiel wie ein Stein.

 Die Wände stürzten um mich ein.

Synkopen stolperten mir entgegen.

Du sahst mich an. Ich fühlte mich wie aufgehoben.

Da hüllten uns die Trommelwirbel ein,

hat uns das Saxophon geschaukelt.

Wir tanzten Mann an Mann

nach den nur uns bestimmten Klängen. 

Wir schwangen in der eigenen Zeit.

 

 

 

 

 


 

Freitag, 5. November 2021

Masken...


Eva Schwieger von Alten: „Masken“, zwei (von fünf) Radierungen, signiert und datiert: Eva von Alten 1926. – Die Mappe mit den Radierungen „Masken“ trägt die Widmung: „In Dankbarkeit für die Inspiration der Zuwendung im Oktober 1975 und für die nun einjährige Freundschaft zwischen zwei Generationen und zwei Geschlechtern – für Jürgen Schwalm von Eva Schwieger, geb. von Alten / Oktober 1976“

 

 

Das Leben spielt immer Theater mit uns. Einmal tragen wir die heitere Maske, dann wieder die traurige. Es gibt Vorspiele, Nachspiele und Zwischenakte bei ständig wechselnden Kulissen. Die Kostüme von heute sind morgen nur noch die Lumpen von gestern. Und die Zuschauer, die im Dunkeln lauern, pfeifen oder applaudieren und merken nicht, dass sie selbst Marionetten sind, die der Deus ex Machina an den Fäden zieht und nach der Vorstellung in die Kiste wirft.

Jürgen Schwalm 

 

 

 

 

Freitag, 29. Oktober 2021

"Lübeck - du seltsam schöne..."

Jürgen Schwalm: Lübeck - Marienkirche und Dom (Version 2), Hinterglasmalerei, 2019

 

„Lübeck – du seltsam schöne…“ – Otto Anthes und das 100-jährige Jubiläum der Volksbühne Lübeck

Auszüge aus der Besprechung der Veranstaltung im Jungen Studio des Theaters Lübeck am 7. Oktober 2021 in: Lübeckische Blätter, 186. Jahrgang, Heft 17 vom 23.10.2021, S.300

Otto Anthes, Lübecker Volksbühne, der Komponist Paul Graener – wie kann man das alles zusammenbringen? Michael P. Schulz, dem 1. Vorsitzenden der „Besuchergemeinschaft seit 1921“, gelang dies informativ wie unterhaltsam im Zusammenwirken mit Jürgen Schwalm anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Volksbühne Lübeck am 7. Oktober 2021…Michael P. Schulz ist es zu verdanken, dass vergessene und unbekannte Texte von Anthes zusammengestellt und zu Gehör gebracht wurden. Gedichte, Anekdoten und Textausschnitte wurden thematisch sinnvoll mit Vertonungen Paul Graeners von Gedichten Ludwig Fuldas, Heinrich Heines oder Gustav Falkes verknüpft. So verband sich „Die alte Stadt“ mit „Lübeck - du seltsam Schöne“, dem Sehnsuchtsort von Anthes. Jürgen Schwalms Rezitationen von Gedichten Anthes‘ und seine temperamentvolle Darstellung Lübecker Verhältnisse nach 1900, basierend auf den Erinnerungen an seine Großmutter Erna Dragendorff, wechselten an diesem Abend ab mit den von Michael P. Schulz gesungenen Liedern Graeners, am Klavier begleitet von Birte Brunhoeber…Anthes‘ Anliegen wurde deutlich: Nicht platter Lokalpatriotismus trieb ihn an, er war ja auch „kein eingeborener Lübecker“. Vielleicht gerade deshalb konnte er „den einzigartigen Zauber dieser Stadt“, von dem er sich umfangen fühlte, auch einfangen. So war dieser Abend sicher nicht nur eine „literarisch-musikalische Erinnerung“, sondern für viele Zuhörer auch eine Neu- und Wiederentdeckung.                                                                            Jutta Kähler

 

 

 

 

 

Samstag, 23. Oktober 2021

Abschiede

Erinnerungen und Andenken. - Bettelspange auf Marienglasplatte aus CHOTT EL DJERID = Salzsee in Südtunesien.-  Marienglas (Frauenglas, Spiegelglas, Selenit) ist eine Gips-Varietät, die in der Antike zu Fensterscheiben verarbeitet wurde, im Mittelalter aber auch zu Sichtscheiben für Reliquienbehälter. Noch in meiner Jugend wurden die Sichtfenster von Feuerklappen alter Öfen fälschlicherweise als Marienglasscheiben bezeichnet, obgleich sie aus Glimmer bestanden (Gips zerfällt nämlich bei Hitze).- Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm

 

Unser Leben belastet die Kette der Abschiede. Jeder persistierenden Erinnerung liegt ein Abschied zugrunde, und jeder selbstverschuldete Abschied verstärkt im Laufe der Zeit den Schmerz der Erinnerung.

Jürgen Schwalm

 

 

 

 

 

 

 

 

Freitag, 15. Oktober 2021

Elke Heidenreich hat recht!

Fundstück vom Museum der Arbeit in Hamburg. Bei meinen Besuchen dort erhielt ich immer fesselnde Anregungen. – Foto: Jürgen Schwalm

 

Cornelia Wystrichowski fragt in einem Interview Elke Heidenreich:

In der öffentlichen Debatte wird das Thema Gleichberechtigung unter anderem an der gendergerechten Sprache festgemacht. Warum verzichten Sie aufs Gendersternchen?

Elke Heidenreich: Das Gendersternchen wird es niemals bei mir geben. Ich finde es eine große Hysterie mit der gendergerechten Sprache, eine genau solche Hysterie wie mit der Frauenquote, für die ich auch nie war – es soll der Beste den Job machen, egal ob Mann oder Frau, so weit sollten wir doch inzwischen sein. Wenn jemand in meine Texte Gendersternchen einfügen würde, würde ich mir einen Rechtsanwalt nehmen. Bei mir wird nicht gegendert.

(zitiert aus: Lübecker Nachrichten, Ausgabe v. 26./27.9.2021)

Elke Heidenreich hat recht. Ich teile ihre Ansicht.

Jürgen Schwalm

 

 

 

Samstag, 9. Oktober 2021

Ulrike Schwalm

Ulrike Schwalm: Lady in Red  walking in the rain/Lady in Red se promène sous la pluie. – Porzellanmalerei auf Dose, signiert U.S., 1980

 

ULRIKE SCHWALM

5.3.1961  - 11.10.2020

Liebe Ulli,

vor einem Jahr haben wir uns trennen müssen. Aber ich fühle mich wie einst mit dir verbunden. Ich unterhalte mich nach wie vor jeden Tag mit dir. Ich berichte dir, was mich erheitert und was mich verletzt, und du freust dich mit mir oder beschwichtigst meinen Ärger. Denn ich bin in dir und du bist in mir, und so ertragen wir alle Probleme auch weiterhin gemeinsam.

Dein Jürgen

 

 

 

 


 

Samstag, 2. Oktober 2021

Einladung

Michael P. Schulz und Jürgen Schwalm, Berlin 2018. – Foto: Antoinette Wehde

 

Zur nachfolgenden Veranstaltung laden wir Sie sehr herzlich ein:

 

 

Volksbühne Lübeck

Theater Lübeck, Junges Studio

 

Donnerstag, 7. Oktober 2021, 19:00 Uhr

 

Anlässlich des 100jährigen Jubiläums der

„Besuchergemeinschaft seit 1921“

 

Lübeck – du seltsam schöne…

Literarisch-musikalische Erinnerungen an

Otto Anthes, den Gründer der Lübecker Volksbühne

 

mit

Michael P. Schulz, Jürgen Schwalm

(Vortrag und Lesung)

Birte Brunhoeber

(Klavier)

 

Anmeldung ist notwendig und wird telefonisch erbeten beim Büro

 der Lübecker Sommeroperette

0451/69813

 

 

 

 

Freitag, 24. September 2021

Brot und Zirkusspiele


Jürgen Schwalm: „Play-Station“, Foto, 2021
 

Brot und Zirkusspiele

Der Ausdruck „Panem et circenses“ = „Brot und Zirkusspiele“ stammt von dem römischen Dichter Juvenal ( ca. 60 – ca. 127 n. Chr.). Das römische Volk kümmerte sich in der Kaiserzeit nicht mehr um die Politik, die Staatsinteressen und das Gemeinwohl. Es ließ sich immer wieder durch Brot und Zirkusspiele bestechen und bei den Magistratswahlen zur entsprechenden Stimmabgabe verleiten.

In Georg Büchmann „Geflügelte Worte“ (dtv 1967) wird dazu folgendes ausgeführt: Nach Friedländer wurde ähnliches schon früher von der Bevölkerung Alexandriens gesagt. Auf Rom wendet den Ausspruch  zuerst Kaiser Trajan (96-117 n. Chr.) an, der nach M. Cornelius Fronto (geb. um 100, gest. um 170 n. Chr.) sagte: „Populum Romanum duabus praecipue rebus, annona et spectaculis, teneri“ = Das römische Volk kann in der Hauptsache nur durch zwei Dinge in Zaum gehalten werden: dass man ihm genügend zu essen gibt und ihm spektakulöse Schauspiele bietet.

Im weitesten und übertragenem Sinne hat diese Aussage bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren. Und: Es wird immer derjenige Sieger, der die Menschen durch Versprechen, die nach der Wahl nicht eingehalten werden, am überzeugendsten täuschen kann.

Jürgen Schwalm

 

 

 


Freitag, 17. September 2021

Wort und Bild und Kunst und Leben

Jürgen Schwalm: „Das Wort-Zeichen“, Hinterglasmalerei, 2016

 

Jürgen Schwalm: Wort und Bild und Kunst und Leben. Seemann Publishing 2021.

342 Seiten, 17,55 €. - Bezug u.a. über Amazon: https://amzn.to/3oGOudT

Bilanz ziehen. Das ist es, was den Lübecker Schriftsteller Jürgen Schwalm (89) derzeit umtreibt. Vor wenigen Monaten hat er in dem Band „Arm in Arm und Wort für Wort“ eine Auswahl seiner Gedichte aus sechs Jahrzehnten veröffentlicht, jetzt legt er nach. In der soeben erschienenen Publikation „Wort und Bild und Kunst und Leben“ bietet er einen Querschnitt seiner Prosa aus ebenfalls sechzig Jahren.

Der Titel des Buches enthält bereits dessen Quintessenz. Denn genau im magischen Viereck von Wort, Bild, Kunst und Leben bewegt sich das literarische und künstlerische Schaffen Schwalms, der sich neben dem bürgerlichen Beruf des Arztes eine zweite, ganz andere Existenz aufgebaut hat. Nämlich die eines kreativ Gestaltenden mit so erstaunlich vielfältigen Kenntnissen und Erkenntnissen, dass man ihn in Frankreich als Homme de lettre bezeichnen würde. Als einen Dichter und Denker also mit sehr weitem Horizont.

Wie facettenreich Schwalms Interessen und Intuitionen sind, ist in dem neuen Band eindrucksvoll dokumentiert. Die Themen reichen von ironisch kommentierten Grabinschriften bis zu individuell gezeichneten Porträts von Künstlern wie Max Beckmann oder Jean Cocteau, von der spannend aufgeblätterten Familiengeschichte bis zum gnadenlos vernichtenden Essay über den Kitsch. Kernstück ist jedoch ein umfangreicher Aufsatz, dessen Titel dann aufs ganze Buch übertragen wurde. Hier entwickelt Schwalm in 29 Thesen seine Philosophie vom symbiotischen Zusammenspiel von Literatur, bildender Kunst und Musik – tiefgründig und trotzdem ohne akademische Verrenkungen.

Wunderbar bissig hingegen die kurzen Aus- und Überfälle, die weder prominente Zeitgenossen (Fritz J. Raddatz) schonen noch bestimmte Politiker („Sie behaupten, die Stützen der Gesellschaft zu sein und laufen selber an Krücken“). Trotz solch kecker Angriffslust grundiert etwas anderes die Prosa: eine subtile Nachdenklichkeit. Pontius Pilatus' Frage „Was ist Wahrheit?“, die Schwalm gleich am Anfang zitiert, ist das zentrale Motiv seiner geistigen Haltung. Die ist geprägt durch eine Kultur des Zweifelns, die sich, zugespitzt bisweilen zu einem entschiedenen Nein-Sagen, wie ein roter Faden durch jene Texte zieht, die Gewicht haben.

Dennoch ist Schwalm nicht der Geist, der stets verneint. Immer wieder leuchtet es auf, das Grundvertrauen, das er dem Leben gegenüber hat. Manchmal schweben durch seine Texte Engel, die uns halten, und in Märchen und Träumen tun sich dem Autor Gegenwelten auf zur phantasielosen, nicht zuletzt deshalb hässlichen Wirklichkeit. Dann wird die Prosa oft zur Lyrik, zu jener literarischen Gattung, die Schwalms ureigene Stärke darstellt.     

 Hermann Hofer

 

 

 

 

Freitag, 10. September 2021

Die Zementtransformierung

Jürgen Schwalm: „Das Verlies“, Collage, 2017

 

Jürgen Schwalm 

Die Zementtransformierung 

Im interplanetaren jahr der kernspaltungen stießen die eltern des krüppelkindes nur noch rote schreie aus / sie erstickten schließlich am blutsturz der worte / da wurden sie nach dem erlass der obersten behörde in den weltraum katapultiert / so wurden alle eliminiert die radioaktiv verseucht waren / aber das war der einzige kompromiss wenigstens nach dem tode noch zur freiheit zu kommen / und wenn auch in der grenzenlosen leere

die parole die am tage ihres todes von der obersten behörde ausgegeben wurde lautete: lies alle verordnungen bis zum ende damit du die wahrheit findest

nun igelte sich das krüppelkind allein ein in seiner zelle im bunkerbau / es hielt nur noch künstliche beleuchtung aus / aber die nannte man längst natürlich /die sonne kam sowieso nicht mehr durch / auch draußen nicht / das krüppelkind hatte das lachen verlernt und das weinen war ihm abhanden gekommen / es befriedigte sich selbst indem es mit formeln spielte / und wackelte rhythmisch im takt der logarithmen / es lutschte gern jeden zwang bis zur neige aus / alle träume waren ihm verboten aber es vermisste keinen

pflanzen und tiere kannte das krüppelkind nur aus vorzeitmythen / darum ekelte es sich so als am tag zero zero dreizweiacht aus einer mauerfuge im zement der betonwand seiner zelle plötzlich ein blutklumpen hervorquoll der sich zu einer roten rosette formte die aussah wie eine rosenblüte

die gedankenübermittlungszentrale gab ihm durch frau atomaria -kurzform maria – halt und trost auch in dieser lage: kein grund zur panik / denn mit dieser rosette ist keine rosenblüte wiedererstanden durch evolution und mutation lebender substanz / wir haben das leben fest im griff / sprach frau maria zu dem krüppelkind / kapriolen sind dem leben nicht mehr möglich / deshalb wirst du auch nie laufen können / doch freue dich denn siehe / dies ist keine blüte sondern eine zementtransformierung / du darfst / wenn du lieb und gehorsam bist / die wahrscheinlichkeitsrate ihrer entstehung berechnen /  also mutter maria

da wurde das krüppelkind sehr zufrieden und wackelte sich in seiner betonzelle im takt der logarithmen in seine aufgabe

die parole der obersten behörde für den tag zero zero dreizweiacht aber lautete: lies alle verordnungen bis zum ende denn die wahrheit übertrifft alle vorstellungen

*

Dieser Kurzprosatext erschien erstmals 1978 in der von der Literarischen Union e.V. herausgegebenen Kurzprosa-Anthologie MAUERN und
und erregte damals heftige Diskussionen. 

Und heute?

 

 

 

Samstag, 4. September 2021

Die Lust zu schreiben


Aus der medizinhistorischen Sammlung von Jürgen Schwalm

Rechts oben: Votivbild des Archinos an Amphiaraos (Inschrift). Links behandelt der Heilgott Amphiaraos den Patienten Archinos, rechts liegt der kranke Archinos auf einer Kline, seine verletzte Schulter wird von einer Schlange zu Heilzwecken geleckt, rechts steht der gesundete Archinos betend vor einer Weihetafel. Attisch, 1. Hälfte des 4. Jh. V. Chr., Marmor, Höhe 49 cm, Breite 54,5 cm, Fundort: Amphiaraion in Oropos, Athen, Nationalmuseum, In. 3369. Links oben: Nachbildungen von Arztinstrumenten aus Pompeji und Herculaneum. Originale im National-Museum Neapel. Von links nach rechts: 1. Sonde, 2. Schere, 3. Haken, 4. Spatel zum Auftragen von Salbe, 5. Sonde, 6. Skalpell, 7. Fremdkörperzange, 8. Messer. Links unten: Bronzeleber von Piacenza, 1877 bei Piacenza gefunden, seither im dortigen Museo Civico. Stilisiertes Modell einer Schafsleber aus dem 3. Jh. V. Chr. Der Rand des Modells ist wie das Himmelsgewölbe in 16 Regionen mit den Namen der etruskischen Götter aufgeteilt, die den griechisch-römischen Göttern entsprachen. Die Leber diente als „Anschauungsmaterial“ bei der Leber- und Eingeweideschau der Etrusker; die Lehre stand in den Libri haruspicini (nach Cicero ein Teil des Regelwerks der Etrusker). Rechts unten: Replik eines römischen Salbgefäßes.

 

Jürgen Schwalm

die lust zu schreiben
der zwang zu schreiben
der versuch mich selbst zu heilen
könnte immerhin erkenntnisse bringen
die dazu beitragen
auch für dich eine therapie zu finden

oft erlauben übersichtliche verhältnisse
einfache chirurgische maßnahmen
den kreuzschnitt um den karbunkel zu entleeren
oder die gewebedurchtrennung mit skalpell und schere
um einen tumor freizulegen und auszuschälen
oder die elektokoagulation eines herdes

aber zwischen dir und mir wären nervennähte nötig
denn die verbindungen zwischen uns
werden immer wieder unterbrochen
ermittelte daten bleiben chiffren ohne code

doch ich gebe die hoffnung nicht auf
dir zu helfen indem ich mir helfe
und wenn auch nur durch anreiz zum befreienden gelächter

in der lust zu schreiben
und im zwang zu schreiben
schlag ich immer wieder salto hoch am trapez
verlass mich darauf dass das netz der worte hält
falls ich abstürzen sollte
dass die worte ihr wort halten
wenn sie ausgestoßen werden
mit der letzten presswehe zum ersten schrei in die welt

nun haben sie ihre schicksale
und vielleicht auch nur ein kurzes leben
doch selbst ein einzges wort kann die entscheidung sein


(Vorwort zu: Schein und Wirklichkeit, Kurzgeschichten deutscher Ärzte
gesammelt von Armin Jüngling, Verlag Th. Breit, Marquartstein, 1
977)

 

 

 

 





Samstag, 28. August 2021

Jürgen Schwalm: „Der Albtraum“, Tusche auf strukturiertem Papier, 1998



Dr. Krishna Srinivas (1913-2007)
WORLD POETRY
2. Band POETRY EUROPE
Madras India 1982

Jürgen Schwalm
 
Aber nun lebe ich nicht 

BUT NOW I DO NOT LIVE 

You took the bandage from my eyes
that I may see
and I became blind

You let in daylight
to blacken the film
of my illusions
and I became prone to deception

You played the tape
of the never changing
litany of your words –
to help- as you said
and I was crushed
by the effort of your conversions

You left me
only brief pauses
during which
I could not find myself any more –
You always wakened me
too soon and said:

The secret is adaptation –
I adapted myself
and now am no longer alive
 
Translated by Eric Vio
Die deutsche Fassung des Gedichtes steht in dem Sammelband:
Jürgen Schwalm: Arm in Arm und Wort für Wort – Gedichte aus sechs Jahrzehnten
Seemann Publishing 2020
ISBN: 9798598725467