Freitag, 23. Februar 2024

Der zu nackte Akt

Jürgen Schwalm: "Die glückliche Entbindung", Collage, 2014

 

Jürgen Schwalm


Der zu nackte Akt

Es ist vertrackt,

dass mancher Akt,

gerade dann, wenn mit Takt

und in keinem Detail abgeschmackt

jeder Fakt

exakt

auf die Leinwand gebackt

wurde,

uns nicht packt.

Der Grund ist schnell ausgeschnackt:

Der abgebildete Akt

Ist uns einfach zu nackt. 





Freitag, 16. Februar 2024

Les enfants du paradis VI - X

Heinrich Schwieger-Uelzen: Schulhof, Öl, 1930. Abbildung in: Jürgen Schwalm, Heinrich Schwieger-Uelzen, Eva Schwieger-von Alten: "Schwingen", 1984

 

Jürgen Schwalm


LES ENFANTS DU PARADIS VI-X
 

VI

Welche Kinderei

dein Bild abzuschlecken

wie eine Katze.

In allen Fotoalben stellte ich dir nach,

schnitt ich dich aus,

hing dich in meinem Kleiderschrank auf 

neben den Konfirmationsanzug

und der ersten Sonntags-Krawatte.


VII

In der letzten Schulstunde

hatte ich deinen Namen

mit dem Taschenmesser

in mein Pult geritzt,

hatte mit meiner Nosferatu-Pranke

dein Herz gepfählt

und hinterm Schild der Bücher

noch im Unterricht

deinen Hals zerbissen

und dein Blut getrunken.


VIII

Das Treffen nach der Schule

musste geheim bleiben.

Schwör mir‘ s

Ich schwör‘ s.

Du weißt dass die Meineid-Hand verdorrt.

Meine Tribute für deine harte Faust:

Ein blaues Glas

dunkler als der Himmel

eine rote Muschel

ferner als das Meer.

Du schenktest mir nichts.

Aber ein Siegel blieb auf meiner Stirn,

das nie mehr abzuwaschen war.


IX

Als Goldregen über Steinmauern fiel

und die Wasser die Gärten

in den Himmel hängten,

stieg dein Spiegelbild aus dem Grund.

Du trugst das Visier deiner Jugend.

Die steilen Knospen waren erigiert.

Die verbotenen Wege verengten sich

zu hohen Fontänen.


X

Wir spielten unsere Träumerei

durch beide Tongeschlechter

vierhändig verschränkt

und achteten anfangs darauf,

dass wir uns dabei nicht berührten,

aber wenn es doch geschah,

durchzuckte uns ein elektrischer Schlag.

Dann ergab es sich,

dass wir uns über klingende Leitern hinweg

Finger zu Finger ertasteten,

und die Akkorde mussten

in langen Pausen

auf eine Auflösung warten,

die nie erfolgte.

 


 

 

 

 

 

 

 

Den Zyklus LES ENFANTS DU PARADIS widmete ich, wie in der letzten Woche ausgeführt, ARLETTY. Das Autogramm-Foto befindet sich in meinem Archiv. 

 

 

 

 

 


Samstag, 10. Februar 2024

Les enfants du paradis I - V

Eva Schwieger-von Alten: Eins-Zwei-Drei / Die Rechenmaschine, Collage, 1927, Abbildung aus: Jürgen Schwalm, Heinrich Schwieger-Uelzen, Eva Schwieger-von Alten: "Schwingen", 1984


 

Jürgen Schwalm

LES ENFANTS DU PARADIS I-V

 

I

Un deux trois

ein Abzählreim

an die Schwarte der Litfaßsäule geschlagen

un deux trois

auf grauen Pflastersteinen

 Kreidequadrate

gehüpft wie gesprungen

Stiefel Halbschuh oder Sandale

hinke pinke

Pfütze links

Gully rechts

Grätsche blind

un deux trois

 Erde Himmel Aus

 

II

Deine Fußspitzen waren

beim Laufen oder Beine-Baumeln

immer ein wenig einwärts gerichtet.

Du trugst rutschende Söckchen

mit großen Löchern.

Durch deine Unterschrift Ingeborg

wurde mein Poesiealbum zum Heiligtum.

Ich schrieb mich auch bei dir

zwischen Oblaten und gepresste Blüten

mit einem Fettfleck fürs Leben ein.

 

III

Mein Späh-Auge war wachsam,

 wenn ich unterm Zelt der Bettdecke

 im Taschenlampenschein

zum weiten Nachtritt ausgezogen war,

um ferne Länder neu zu erforschen.

Dann waren in den Canons

Licht und Schatten

scharf ausgeschnitten,

stand der Mond auf Glanzpapier,

und beim Wenden der Seiten

knisterten die Lagerfeuer.

 

IV

Deine Sprödigkeit

die mich so entzückte.

So keusch

konnte nur der Sonntag sein

vor der Messe,

mit Zuckerwasser im Haar

und süßen Löckchen,

einer Hostie zum Frühstück

 und einem Halleluja für eine Vogelstimme.

 

 

V

Hoch stand ich auf dem Olymp des Theaters

in den schönen Tagen von Aranjuez

mit scheuerndem Kragen.

Unten aber die Königin

 trug zarte Spitzen am Hals

pflückte mit geschminkter Hand

aus grüner Kulisse einen Granatapfel

 und reichte ihn mir

über alle Ränge hinweg

 hinauf ins Paradies.

 

Teil II des Zyklus folgt in der nächsten Woche. – Der Titel LES ENFANTS DU PARADIS wurde durch den gleichnamigen Film angeregt, der 1943-1945  unter der Regie von Marcel Carné nach einem Drehbuch von Jacques Prévert produziert wurde und ein herausragendes Beispiel des poetischen Realismus in Frankreich ist. Ich veröffentlichte den Zyklus das erste Mal 1984 und schickte ihn der wunderbaren französischen Schauspielerin Arletty (1898-1992), die nach ihrem eigenen Urteil in diesem Film die schönste Rolle (als Garance) ihres Lebens erhielt. Obgleich mein Gedichtzyklus, in dem kindliche und pubertäre Gefühlsäußerungen aufgearbeitet werden, nichts mit dem Inhalt des Filmes zu tun hat, war Arletty sehr berührt, und es ergab sich daraus eine aufschlussreiche Korrespondenz, die bis zum Tod der Darstellerin fortgesetzt werden konnte.   

 

 

 

 

 

 

 

Freitag, 2. Februar 2024

Rezension im Bremer Jahrbuch 2023

Theodor Schwalm, Selbstbildnis, Öl auf Malpappe, 1924; Besitzer: Jürgen Schwalm

 

Arthur Fitger, Fotografie aus dem Jahr 1895; Archiv: Jürgen Schwalm

 

 

Jürgen Schwalm: Arthur Fitger und Theodor Schwalm, Dokumente einer
Künstlerfreundschaft in Bremen, Seemann Publishing, 2022

Rezension im Bremer Jahrbuch 2023 ( Auszüge):


Zu den lobenswerten Ausnahmen zählt ohne Frage das neueste Buch von Jürgen Schwalm über die Künstlerfreundschaft zwischen Arthur Fitger (1840-1909) und Theodor Schwalm (1870-1940). Es handelt sich um ein Doppelporträt zweier Kunstschaffender, die von der Kunstgeschichte bislang wenig beachtet wurden, in den Sphären zwischen Malerei und Rivalität, menschlich berührender Freundschaft und gegenseitig motivierenden Inspirationen im Reich der Bildenden Künste…Jürgen Schwalm, ein promovierter Hautarzt, auch bekannt als Lübecker Schriftsteller, behandelt das Thema intensiv und tiefgründig in Gestalt einer Dokumentensammlung… Schon in der Vorbemerkung gelingt es Jürgen Schwalm, auf nur einer Seite das Leben seines Großvaters vom mittellosen Jungen bis um geachteten Dekorations- und Kunstmaler und das Besondere dieser herzlichen Künstlerfreundschaft zu konzipieren. Der Verfasser zeigt die „sehr unterschiedlichen sozialen Verhältnisse von Theodor Schwalm und Arthur Fitger auf, die durch Fitgers Persönlichkeit immer wieder überbrückt wurden“. Der Mehrwert des Buches liegt in der Auswahl und Vielfalt der Themen für diese Freundschaftserzählung…Um das Archivmaterial des Buches zu kontextaktualisieren und der Leserschaft die historischen Zusammenhänge zu vermitteln, nutzt der Autor vorbildlich die starke Aussagekraft der Dokumente selbst. Jürgen Schwalm lässt in längeren, vortrefflich ausgewählten Zitaten die beteiligten Künstler, ihre Familienangehörigen und Freunde erzählen…Der Arzt und Schriftsteller Schwalm bringt eine stattliche Masse an historischem Quellenmaterial, sachlichen Zusammenhängen und biografischen Tatsachen in eine plausible und erkenntnisträchtige Struktur. Schwalms Buch
zeigt zwei Künstler und ihr soziales Umfeld sowie ihre gegenseitige Beeinflussung und geht über übliche Dokumentensammlungen hinaus. Es gibt einmalig tiefe Einblicke in die Gedanken- und die Gefühlswelten sowie in einen inspirierenden schöpferischen Dialog zweier Bildender Künstler. Schwalms Publikation gibt einen wichtigen Anstoß für die weitere Aufarbeitung von Künstlerfreundschaften, ihre Perspektive kann möglicherweise zur Grundlage für weitere historische Forschungen werden, sie ist ein einzigartiges Zeugnis einer redlichen Freundschaft zwischen zwei kreativen Geistern und eines beiderseits gewinnbringenden Austausches. Obendrein lesenswert im Stil.

Jürgen Tremper