Freitag, 1. Februar 2019

Grandville lässt grüßen

J.J. Grandville: Illustration aus “Un Autre Monde” (1844); 
siehe auch die Eintragung vom 26.1.2019


Jürgen Schwalm

Kuss-Zeh

Unterm Zirkuszelt in der Manege beglotzt das Publikum die schöne Kunstreiterin Miranda. Rundum geht es, immer im Galopp. Die Peitsche des Herrn Direktors trifft nicht immer nur das Pferd, sondern manchmal auch Miranda, die ihn dann höhnisch auslacht. Sie hat kräftige weiße Zähne, die zubeißen können. In ihrem nächtlich schwarzen Haar flattern die Bänder,  blitzt der Talmi-Schmuck. Ihre Füße wippen im Takt der Musik auf dem glänzenden Fell des Pferdes. Jetzt tanzt sogar ihr rechter Großzeh Spitze, das steigert den Applaus. Nach dem Auftritt wirft sie dem Herrn Direktor, der ihr in die Garderobe folgen will, die Türe vor der Nase zu. Drinnen warten schon die Verehrer, die ihr Rosen in den Ausschnitt stecken wollen, und sie erhält von den parfümierten und pomadisierten Bartträgern nicht nur schmatzende Handküsse. Denn beim Champagner, den der Herr Fabrikbesitzer schäumen lässt, zieht Miranda die Strümpfe aus und ihre akrobatische Großzehe wird zum Kuss-Zeh. Sie streckt ihn dem Herrn Fabrikbesitzer entgegen, der sich zuerst bedienen darf, zumal er am Schluss ja auch das Souper bezahlen muss.

(aus: Farbwechsel / Wortbilder, 1982)



 


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