Samstag, 27. März 2021

Die Himmelsschlüsselblume

Blumenkinder. WEHA-Kunst Dippoldiswalde (Dipps) Osterzgebirge; 1970. –

Sammlung: Jürgen Schwalm


 

Jürgen Schwalm

Die Himmelsschlüsselblume


Die Lust am Leib: Eine meine frühsten Kindheitserinnerungen. Ich saß mit meinen Eltern und Geschwistern in der gläsernen Veranda unserer Wohnung und aß Rhabarbergrütze.
Schon das Wort Veranda, zum ersten Mal bewusst gehört bei der oralen Befriedigung durch das englische Gemüse, wie Henriette Davidis einst den Rhabarber bezeichnete, klang wie eine magische Formel.
Durch die weißen Tüllgardinen wurde kühl-grünes Frühlingslicht gefiltert, noch nicht die rote Wärme der Sommertage später im Jahr.
Seitdem verbindet sich für mich der Genuss von Rhabarbergrütze untrennbar mit diesem Licht im gläsernen Raum der Veranda. Esse ich jetzt Rhabarber, denke ich an diese Veranda.
Die alchimistische Kopulation gab mir als Kind ein Frühlingsglücksgefühl, das mich berauschte. Wie eine dicke Blütenknospe draußen vorm Fenster war ich dicht vorm Aufplatzen. Ich wäre nicht verwundert gewesen, wenn ich plötzlich Blütenblätter getragen hätte.
Der Gedanke lag gar nicht so fern. Denn meine Schwestern hatten ein Buch, in dem die Blüten ihre Blätter wie Kleider trugen und sich in anmutigen Versen miteinander unterhielten.
Ich schätzte die Bilder sehr. Und ich finde auch heute noch die erzgebirgischen Blumenkinder entzückend, die meine Frau jeden Frühling auspackte und aufstellte.
Scheußlich, sagen Sie? Ach, keine Spur, denn es ist ein Blumenknabe dabei, der die Himmelsschlüsselblume meiner Erinnerung trägt.

(aus: Der Lebens-Baum, Betrachtungen)
 
 
 

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