Samstag, 19. September 2020

Jürgen Schwalm: Das Symbol der ärztlichen Kunst: Der Äskulapstab. – Hinterglastechnik, 2019   


Jürgen Schwalm

Pathographien 

Die Pathographien, die Ärzte über Künstlerpersönlichkeiten verfertigen, zeigen nicht selten selbst pathologische Auswüchse. Die Verbindung von Kunst und Krankheit ist ein heikles Thema. Wie schnell ist man da beim Begriff der krankhaften und am Ende wieder der entarteten Kunst unseligen Angedenkens.

Manchmal sind pathographische Fehldeutungen aber nur lächerlich. Es ist bekannt, dass der Maler Dominikos Theotokópoulos, genannt El Greco (1547- 1614), die Personen seiner Bilder häufig mit überlangen Körpern und Gesichtern darstellte. Nachdem der Künstler bereits dreihundertfünfzig Jahre tot war, attestierten ihm Ärzte, er hätte an einer organischen Sehstörung, nämlich an einem Astigmatismus, zu deutsch: an einer Stabsichtigkeit gelitten, bei der infolge einer Hornhautverkrümmung Punkte als Striche wahrgenommen und Linien verzerrt gesehen werden. Hätte man damals El Greco schon eine entsprechende Korrekturbrille verpassen können, dann wären die Proportionen auf seinen Bildern „korrekter“ ausgefallen.

O sancta simplicitas! Ein Individual-Stil muss nicht die Folge eines Sehfehlers des Künstlers sein, und Ärzte sollten erst einmal selbst die richtige Brille aufsetzen, bevor sie Pathographien schreiben. 

(aus: Der Lebens-Baum)

 

 

 

 

 

 

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