(Foto: Gisela Heese) |
Friedrich Hölderlin (1770-1843) mit 70 Jahren. Wachsrelief von Wilhelm Paul Neubert (1808-1895) |
Jürgen Schwalm
Hölderlin
Immer: Schwanengesänge.
Immer: Mitbangen
um die letzten miteinander verbundenen Worte.
Die leichten Brücken
werden langsame Stege.
Immer: Fürchten
dass die Klänge nicht mehr tragen
wenn er unter der Glocke dann herabgeht
jene Treppen
in den versunkenen Sinn.
Und doch: Kein Abschied
weil er wiederkehrt.
(in: Jürgen Schwalm: Aus Nimmermehr ein Immermehr,
Verlag Th. Breit, Marquartstein, 1977)
Als ich das Studium der Medizin in Freiburg / Breisgau begann, wohnte ich, um Geld sparen zu können, bei meiner Großmutter Erna Dragendorff. 1953 absolvierte ich das Physikum, und bei diesem Anlass schenkte mir meine Großmutter ein Buch aus der Bibliothek meines Urgroßvaters Georg Dragendorff (1836-1898, seit 1864 Professor der Pharmazie an der Universität in Dorpat = Tartu / Estland).
Der 1605 in gepunztes Leder (Abbildung 1 und 2) eingebundene, lateinisch abgefasste, 1594 gedruckte Band ist eine Bearbeitung des REGIMEN (=Handbuch) SANITATIS SALERNITATUM des Arnaldus von Villanova.
Villanova (1235 – 1311) kam als Sohn einfacher Leute in Valencia zur Welt, wurde in einem Dominikanerkloster erzogen und absolvierte seine Studien der Medizin in Montpellier und Paris; später praktizierte er als Arzt in Barcelona, um dann sowohl in Paris als auch in Montpellier zu wirken. 1295 kam er an den päpstlichen Hof in Rom, wo er die Gunst Bonifatius III errang und diesen von einem Leiden befreite. Wegen seiner politischen und theologischen Schriften wurde er jedoch immer wieder vom Klerus angefeindet. Jedoch verstand er es, in den Diensten der Könige Jakob II (der Gerechte = Jaime el Justo, 1267-1327, 1291-1327 König von Aragonien) und Robert von Anjou (1278-1343, von 1309-1343 König von Neapel) schwierige diplomatische Probleme zu lösen und gelangte später bei Friedrich dem Schönen (1289-1330, ab 1314 römisch-deutscher König) aus diesen Gründen zu hohen Ehren. Sowohl als Diplomat wie auch als Arzt und theologischer Schriftsteller war er eine kraftvolle faustisch anmutende Vollnatur mit universellen Kenntnissen.
Bei dem REGIMEN SANITATIS SALERNITATUM handelt es sich um eine Sammlung von Versen, meist in lateinischer Sprache. Vermutlich waren Mönche die Urheber dieser vielfach in Hexametern verfassten Gesundheitsregeln, medizinischer und diätetischer Vorschriften. Arnaldus von Villanova soll diese Verse in Salerno / Italien gesammelt haben. Die Ärzteschule von Salerno war schon früh durch Heilquellen und Kräutergärten berühmt. Die aus einem Kloster entstandene Schule, ursprünglich von den Franken gegründet, entwickelte sich zu eine Disciplina, einer Art Universität, zu der auch Frauen zugelassen waren. Die sinnenfreudige, naturverbundene Mentalität dieser Zeit klingt im heiteren Ton der Verse des Handbuches wider, das kein ausgesprochenes Kräuterbuch ist, jedoch durch die vielen Hinweise auf die Verwendung von Heilpflanzen als Vorläufer der Kräuterbücher interessant ist.
Hier folgen zwei Hexameter-Zitate aus dem REGIMEN SANITATIS SALERNITATUM: Contra vim mortis, non est medicamen in hortis (=frei übersetzt: Gegen die
Übermacht des Todes ist kein Kraut gewachsen) Ne mictum retine, ne comprime fortiter anum! (frei übersetzt: Pinkele viel und kneife den Arsch nicht zusammen = kacke viel!)
„Bereits im zehnten Jahrhundert wird in Salerno auf hohem Niveau Medizin gelehrt. Hundert Jahre später verbindet die Medizinschule als erste in Europa eine geregelte ärztliche Ausbildung mit einem öffentlichen Gesundheitswesen. Ärzte, die an der Schule lehren, haben oft auch staatliche Ämter inne. Man entwickelt neue Lehrmethoden wie den Kommentar und das Streitgespräch. Im 12. Jahrhundert findet die Medizin zusammen mit den Fächern Wetterkunde und Physik einen Platz in der Naturwissenschaft. In Salerno entsteht das Bild des gelehrten Praktikers, der erst nach den Ursachen einer Erkrankung sucht und dann behandelt. Ohne theoretische Kenntnisse ist man einfacher Wundarzt und darf sich nicht ‚practicus‘ nennen. In Salerno entstehen viele bedeutende Werke zur Arzneimittellehre. Ein pharmazeutisches Standardwerk der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts ist das ‚Antidotarium‘ von Nicolaus von Salerno. Er reduziert die Anzahl der Präparate und schlägt ein einheitliches Gewichtssystem zur Portionierung von Arzneimittelbestandteilen vor. 1317 vollendet Matthaeus Silvaticus sein ‘Opus pandectarum medicinae‘, ein Lexikon der Heilmittel aus einem einzigen, meist pflanzlichen Wirkstoff. Da ist der Stern der Medizinschule bereits gesunken. Zwar besteht die Universität in Salerno bis 1812, doch im Zuge weiterer Universitätsgründungen in Europa verliert sie den Anschluss und verschmilzt mit der Universität von Neapel.“ (Christof Goddemeier im DÄ vom 10. Januar 2011)
Die Ausgabe des „Regimen Sanitatis Salernitatum“ von 1594, die ich besitze, wird zusätzlich als (übersetzt) „Anweisung, wie man eine gute Gesundheit erhalten kann“ bezeichnet und folgt einer gründlichen Bearbeitung des Villanova-Textes durch Johannes Curio, geb. 1512 in Rheinberg, gest. 1561 in Erfurt, der als Arzt, Stadtphysikus und Hochschulprofessor an der Universität in Erfurt tätig war.
Jürgen Schwalm
Manuel Moreno, Pressefoto, 1990 |
Jürgen Schwalm
Spanischer Tanz
(in honorem Manuel Moreno)
Rhythmus aus Staub getrommelt -
Wenn der Bogen
von gespannter Sehne
den Pfeil entlässt
schlagen die Stiefelabsätze auf -
Zurückgestampft und gezüchtigt
wird der klappernde Wirbel
jäh unterbrochen
und das Opfer beschworen -
Die Strenge reizt zur Ekstase
aber die Hände
leugnen die Absicht nie
sie flattern
locken
fordern
kreisen ein
packen zu
halten fest
und siegen
(Urfassung in: Jürgen Schwalm,
Aus Nimmermehr ein Immermehr,
Verlag Th. Breit, Marquartstein, 1977)
Von Küssen und vom Küssen / Das Buch der Küsse
Das Kuss-Thema war immer aktuell. In der „Lübecker Zeitung“ vom 19. Dezember 1849 annoncierte Ernst Willkomm, damaliger Redakteur der Zeitung, mit fetten Lettern sein Buch der Küsse. Der Termin war geschickt gewählt; Küsse werden gerne ausgetauscht unterm Weihnachtsbaum. Aber wem sollte das Buch geschenkt werden? Einer jungen Braut als erotische Gabe? Einem pubertierenden Jüngling? Einem Lustgreis? In der Anzeige wurden 33 verschiedene Kuss-Arten wie ein Süßwaren-Sortiment angeboten, und das auch noch in alphabetischer Reihenfolge. Wässert Ihnen nach diesem Hinweis schon der kussbereite Mund? Dann überfliegen Sie doch bitte sogleich folgende Kuss-Liste: Ahnungs-, Andachtskuss, Begeisterungskuss, Engels-, Erdenkuss, Freundeskuss, Geistes-, Glaubens-, Glückeskuss, Himmels-, Hoffnungskuss, Jugendkuss, Lebens-, Leidens-, Lenzes-, Lichtes-, Liebeskuss, Mädchen-, Mutterkuss, Sanges-, Schmerzes-, Segens-, Sehnsuchts-, Sonnen-, Sternenkuss, Todes-, Traumeskuss, Vater-, Versöhnungskuss, Wahnes-, Weihe-, Wunscheskuss, Zweifelskuss.
Entweder rufen Sie jetzt: “Aufhören, aufhören!“ Oder Sie fragen: „Wo bleiben denn die Küsse unter den Buchstaben C,D,I,K,N,O,P,Q,R,U,X und Y?“ Oder Sie sagen: „Da fallen mir unter den Buchstaben ja ganz andere Kussarten ein!“ Wahrscheinlich sind Sie enttäuscht: Sie hätten herzlich gerne pikantere Varianten in der Liste entdeckt, nicht wahr? Geben Sie es doch zu: Die Liste hätte gerne unanständiger sein dürfen.
Lassen Sie mich ein Zitat anbringen: „Die Sitte des Küssens geht wahrscheinlich von der Vorstellung aus, dass bei der Berührung der Lippen oder Nasen ein Austausch der im Atem gedachten Hauchseelen stattfindet. Älter als der Lippenkuss ist allem Anschein nach der Nasen- oder Schnüffelkuss.“ – Wer hat sich das denn ausgedacht?, werden Sie fragen. – Nein, der Herr Willkomm war es diesmal nicht. Die Zeilen stehen auch nicht in einem Witzblatt, sondern im etymologischen Duden von 1989. Da sieht man’s mal wieder:
Alle Sachen,
die Spaß machen,
werden von Literaten
verbraten und verraten,
und die Wissenschaftler erbauen ihnen ein Logis
in einer -Logie (in diesem Falle in der Etymologie).
Aber was hat ein schöner Kuss denn eigentlich in den Wissenschaften verloren? Dass wir
über das Küssen reden müssen, das muss nicht sein. Doch eins muss sein:
WIR MÜSSEN KÜSSEN!
PS: Der Tag des Küssens ist übrigens der 6. Juli.
Renée Sintenis (1888-1965): "Daphne", Bronze vergoldet, 1930, Behnhaus Lübeck. Foto: Johannes Grenda 1992 |
Jürgen Schwalm
Daphne
Schwellende Angst
hemmt den Fluchtweg –
Die Landschaft wird zur Arena
auf der sie keine Zuflucht findet
um sich zu verbergen –
Die Sonne wirft über Apoll
die Protuberanzen der Leidenschaften –
Aus dem Schwindel des Windkreisels
zündeln die Stacheln seiner Gier –
Über Daphnes Stirn
schwebt das Schwert des beschlossenen Urteils –
Schon strauchelt sie im Sturz
weil die Umklammerung wurzelt –
Wie der Schleier ihrer Haare
den kleinen Tod der sie erwartet fürchtet
gerinnt die Zeit –
Ihre Arme verholzen
zur Gitterwehr der Äste –
Die Lippe verborkt –
In Rinde verstockt die Klage
doch schon bereut das Laub
(Erstfassung in Jürgen Schwalm: Aus Nimmermehr ein Immermehr,
Verlag Th. Breit Marquartstein 1977.
Zur Mythologie: Daphne ist eine Tochter des Flussgottes Peneios in Thessalien. Als
Apollon Daphne vergewaltigen wollte, floh sie. Erschöpft flehte sie zu ihrem Vater,
dass er ihre den Apollon reizende Gestalt verändern möge. Sie wurde in einen
Lorbeerbaum verwandelt. Seither ist der Lorbeerbaum dem Apollon heilig.)
Der Knauf-Kopf
Als ich durch Lauenburg an der Elbe schlenderte, bewunderte ich die alten, oft liebevoll restaurierten Fassaden der Häuser. Zu einer Haustür führte eine Treppe, deren Geländer mit einem Knauf endete, der wie ein Frauenkopf gestaltet war (s. Abbildung 1). Da fiel mir als Folge einer alchemistischen Gedankenreaktion sofort „Der goldene Topf“ von E. T. A. Hoffmann ein, das wohl schönste Kunstmärchen der deutschen Romantik. Der Studiosus Anselmus will das Haus des königlichen Archivarius Lindhorst betreten, aber der Archivarius ist eigentlich ein großer Geisterfürst aus dem wunderbaren Geschlecht der Salamander. In den Kampf des Geisterfürsten für die Schönheit und gegen die schnöde Bosheit der Realität wird Anselmus auf merkwürdige Weise einbezogen.Wie Anselmus eben die Hand erhebt, um den Türklopfer zu bedienen, verwandelt sich dieser in die höhnisch grinsende Fratze einer teuflischen Frau, die im Verlauf der magischen Handlung immer wieder ihre Daseinsform wechselt. Als Tochter eines Flederwisches und einer Runkelrübe ist sie das feindliche Prinzip, das als Apfelverkäuferin, Kartenlegerin oder als Kinderfrau agiert, aber auch als Kaffeekanne die Gespräche junger Mädchen belauscht oder sich in einen Türklopfer verwandelt. Zwar hat E. T. A. Hoffmann die Handlung in Dresden angesiedelt, aber bei derart krausen Verwicklungen sei es dem Kopf doch gestattet, sich auch auf einem Geländerknauf in Lauenburg zu präsentieren, zumal beide Orte an der Elbe liegen. Wollen Sie noch mehr wissen von dem sonderbaren Kopfe? Das Original, das Hoffmann inspirierte, der Kopf des „Apfelweibchens“ nämlich, befand sich an der Tür des Freundes Hoffmanns, des Weinhändlers Carl Friedrich Kunz (1785-1849), der in der Bamberger Eisgrube 14 wohnte, und den Hoffmann häufig besuchte. Hoffmann wohnte seit 1809 am Bamberger Zinkenwörth (heute: Schillerplatz 26). Kunz gründete 1814 einen Verlag und gab als erster Verleger überhaupt Hoffmanns Phantasiestücke heraus. Das Original des Apfelweibleins wird jetzt im Bamberger Historischen Museum verwahrt; am Hause Eisgrube 14 befindet sich eine Bronzekopie (s. Abbildung 2).
Ach, liebe Freundinnen und Freunde, lesen Sie den Goldenen Topf, und wenn Sie früher schon daraus genascht haben, lesen Sie ihn noch einmal bis zum Happy End, das man hübscher nicht erfinden kann: „Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbart?“
Jürgen Schwalm