(Foto: Gisela Heese) |
Jürgen Schwalm
Venedig
Obwohl Brunetti vom Ort eines gewaltsamen Todes zurückkehrte, konnte er nicht verhindern, dass sein Herz höher schlug beim Anblick der Glockentürme und der pastellfarbenen Fassaden, die vor ihm auftauchten, als das Polizeiauto über die Brücke fuhr. Schönheit änderte nichts, das wusste er, und vielleicht war der Trost, den sie spendete, nur eine Illusion, aber dennoch begrüßte er diese Illusion.
Donna Leon, Venezianische Scharade,1996
Wo die Paläste an Mörtelfraß leiden
und an fauliger Gangrän,
wo die Fassaden verschimmeln
und die Wasserstraßen stinken,
können Brücken nur darüber seufzen,
dass sich dort noch immer
so viele Liebende vergondeln lassen,
in sentimentaler Verblendung
die Hochzeitsringe tauschen,
um schließlich doch
im Tränenmeer der Lagune zu versinken.
Jürgen Schwalm
Das Haus „Zum halben Monde“
Im Februar 1974 übernahm ich die Praxisräume im 1. Stock des Hauses Sandstraße 16. Das Haus hat die alt-ehrwürdige Bezeichnung Zum halben Monde und ist noch heute an der Fassade durch ein Schild mit einem goldenen Halbmond gekennzeichnet, dessen Absturz ich allerdings immer befürchtete, wenn der Sturm allzu sehr durch die Sandstraße pfiff und an der Mauerverankerung des Schildes rüttelte.
In dem Haus befand sich seit 1812 die von Friedrich Ferdinand Suwe begründete und nach ihm benannte „Suwe’s Apotheke“.
Friedrich (Fritz) Ferdinand Suwe (geb. 1777 in Gnoien/Mecklenburg, gest. 1851 in Lübeck) war von Jugend an außerordentlich geschäftstüchtig; er war der geborene Kaufmann. Schon als Gehilfe in der Lübecker Ratsapotheke steigerte er deren Umsatz derart, dass ihm als Ausgleich gestattet wurde, nebenbei für eigene Rechnung einen Handel mit „Englisch Pflaster“ zu betreiben. Dieser lief so gut, dass Suwe, der nie studiert hatte, sondern ein Mann der Praxis war, sich 1806 eine eigene Apotheke kaufen konnte: die damalige Halbmond-Apotheke in der Holstenstraße.
Vom 6.- 9. November 1806 wurde Lübeck von französischen Truppen geplündert. Suwe überstand auch diese Prüfung. Er hatte die Schaufenster seiner Apotheke selber eingeschlagen, in seiner Offizin Tische und Schränke umgeworfen und „Sößlinge“ und sonstiges Kleingeld auf dem Fußboden verstreut, und der Trick gelang: als die Marodeure kamen, dachten sie, es wären schon Plünderer dagewesen und trollten sich gleich wieder.
Als Lübeck französische Stadt wurde, schmuggelte Suwe in großem Stil, wozu Napoleons gegen England gerichtete Kontinentalsperre geradezu herausforderte. Er stapelte Kaffee und Zucker in eigenen Niederlassungen in Steinrade und Stockelsdorf und brachte die Schätze in dunklen Nächten nach Lübeck.
Alle Lübecker hatten damals unter den Kontributionen viel zu leiden, doch die vor Lübeck zusammengezogenen Truppenkontingente brauchten viele Medikamente, und so glich sich der Verlust für ihn wieder aus. In der Notzeit waren die Grundstückspreise enorm gesunken. Suwe nützte das aus und erwarb 1812 das große Lübecker Giebelhaus in der Sandstraße, in dem er die Halbmond-Apotheke errichtete.
Als 1831 Dampferlinien nach St. Petersburg, Riga und Reval eröffnet wurden, profitierte Suwe auch davon. Seine Medikamente waren in Petersburg und im Baltikum sehr begehrt, und in Lübeck belieferte er das berühmte Institut von Dr. Leithoff in der Schildstraße.
Der Junggeselle Suwe hatte sich nie dafür interessiert, sein Geld vernünftig anzulegen. Und so fanden seine Erben, ein Bruder und zwei Neffen, nach seinem Tode zu ihrem Staunen in vielen Zimmern, Sälen und Kabinetten des großen Hauses in der Sandstraße beträchtliche Geldsummen unverschlossen gestapelt, die Suwe dort abgelegt hatte. Auch hinter den Paneelen seiner Wohnstube soll er gespartes Geld versteckt haben.
Von Suwe, der ein Original gewesen sein muss, sind noch zahlreiche weitere prachtvolle Geschichten überliefert.
Zum 1. Januar 1850 hatte Suwe seine Apotheke an Gustav Schliemann übergeben, der seinem Vorgänger einen ausführlichen Nachruf widmete, der 1852 in den „Neuen Lübeckischen Blättern“ publiziert wurde.
Das Haus „Zum halben Monde“ hatte ursprünglich eine große lübsche Diele, die etwa der Diele entsprach, die man heute im St. Annen-Museum bestaunt. Die alte Kaufmannsdiele in der Sandstraße wurde erst 1911 bei einem Umbau des Gebäudes entfernt.
Palmarum 1942 wurden bei dem verheerenden Luftangriff auf Lübeck alle Häuser der Sandstraße zerstört, nur die Fassade des Hauses „Zum halben Monde“ blieb stehen. Das ist auf zahlreichen historischen Fotos dokumentiert. Gleich nach dem Krieg hat eine Erbengemeinschaft das Haus – unter Verwendung alten, noch brauchbaren Baumaterials – wieder aufgebaut, sich allerdings nicht entscheiden können, auch das obere Giebelgeschoss in die Planung einzubeziehen. So schließt das Gebäude noch heute mit einem Flachdach ab.
Die Apotheke wurde von Ingeborg und Joachim Nevír geleitet; mit beiden verband mich eine hervorragende Zusammenarbeit und wir schätzen uns sehr.
In der Sandstraße habe ich bis zum 4. Quartal 1996 praktiziert. Die Apotheke in der Sandstraße hat inzwischen längst einen neuen Besitzer und heißt nach fast zwei Jahrhunderten jetzt Pegasus-Apotheke.
Abb. 1:
Suwe erhält 1812 die Erlaubnis, eine Apotheke leiten zu dürfen. Lübeck war von 1806-1813 französisch besetzt (sog. Franzosenzeit), deshalb wurde das Dokument zweisprachig abgefasst (Dokument im Stadtarchiv Lübeck)
Abb. 2:
Karl Gatermann d.Ä. (1883-1959) : Die alte Kaufmannsdiele im Hause Sandstraße 16 (Lübecker Stadtarchiv)
Abb. 3:
Der Pfeil weist auf das "Haus zum halben Monde" in der Sandstraße Nr. 16, Foto aus den 1930ger Jahren
Abb. 4:
Das Haus Sandstraße 16 nach der Zerstörung Palmarum 1942
Jürgen Schwalm
Kosmas und Damian
Jeden Morgen
erblüht die Ikone,
auf die ich beim Erwachen schaue,
im Licht.
Kein Fenster wäre so klein,
dass der erste Sonnenstrahl
sie nicht treffen könnte.
Ein Augenblick Glanz -
und es gab keine Nacht!
Es ist gewiss:
Ich werde geheilt sein.
Palmarum 1942 wurde bei dem verheerenden Luftangriff auf Lübeck die Marienkirche zerstört. Im September 1948 prägte die Hamburger Münze aus dem Metall geborstener Glocken der Lübecker Marienkirche insgesamt 4250 Gedenkplaketten zum Herstellungspreis
von 10.- Mark, die zugunsten des Wiederaufbaus und des Erhalts der Marienkirche im Inland für 50.- Mark angeboten wurden; aus den USA war der Vorschlag gekommen, sie für 50
Dollar / Stück zu verkaufen.
Alfred Kerr
wurde ich kürzlich erinnert, als ich wegen des Verdachtes, einen Schlaganfall erlitten zu haben, in eine Klinik eingewiesen wurde.
Alfred Kerr, 1867 in Breslau geboren, hieß eigentlich Alfred Kempner, war aber- entgegen einigen Vermutungen der damaligen Zeit- nicht der Neffe der als „Schlesischer Schwan“ belächelten Dichterin Friederike Kempner.
Der Sohn reicher jüdischer Eltern studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Berlin und promovierte 1894 in Halle zum Dr. phil. mit einer Dissertation über Clemens Brentano.
Kerr war in Berlin einer der einflussreichsten deutschen Kritiker in der Zeit vom Naturalismus bis 1933. Er schrieb für den „Tag“, das „Berliner Tageblatt“ und die „Frankfurter Zeitung“ und war vor dem 1. Weltkrieg Mitherausgeber und auch Herausgeber der Kunst- und Literatur-Zeitschrift „Pan“.
Kerr floh 1933 nach Prag, dann nach Zürich und Paris und 1935 nach London. 1947 wurde er britischer Staatsbürger. Ab 1945 arbeitete er für die deutschen Tageszeitungen „Die Welt“ und „Die Neue Zeitung“ und lebte schließlich in Hamburg. 1948 erlitt Kerr während einer Hamburger Theateraufführung einen Apoplex und wählte daraufhin den Freitod durch eine Überdosis Schlaftabletten. Begraben wurde er auf dem Ohlsdorfer Friedhof.
Kerr verfasste seine Kritiken in einem eigenen Stil und sehr eigenwilliger Schreibweise; sie wurden auch als „literarische Stenogramme“ bezeichnet. Er sah in der Kritik eine eigene Kunstform und bevorzugte dabei eine treffende, geistreich-ironische und oft absichtlich saloppe Schreibart. Er war parteiisch, hatte aber einen unfehlbaren Instinkt für das Gute und Gelungene und scheute sich nicht, das Schlechte und Misslungene vernichtend abzustrafen.
Typische Beispiele. Über eine Opernsängerin urteilte er: „Es soll auch Fräulein X. gesungen haben. Gehört habe ich sie nicht.“ Ein Erstlingswerk rezensierte er mit einem Satz: „Wacker, wacker, kleiner Kacker“.
Jürgen Schwalm
Annette Kolb, Fotografie um 1950; Bildsammlung Schwalm |
Jürgen Schwalm
1913 veröffentlichte die Schriftstellerin Annette Kolb (1870-1967) im Fischer-Verlag ihren ersten Roman „Das Exemplar“. Wie in allen Romanen Annette Kolbs sind auch in diesem autobiografische Motive verarbeitet. „Das Exemplar“ ist nämlich John Ford, Legationssekretär der englischen Botschaft, mit dem Annette Kolb in München und Paris häufig zusammengetroffen war und mit dem sie bis zu seinem Tod im Jahre 1917 korrespondierte. Über ihre Freundschaft mit John Ford schrieb sie:
Zwischen uns herrschte ein weißer Zauber. Ja, wir schritten als eine unauflösliche Einheit voran, unsichtbare Vereinigung im Takt der Gesetze der Musik. Für mich war dieser Gleichklang Entspannung und Erholung, ein Vergessen meiner selbst, des ganz besonderen Problems meiner Existenz, des eifersüchtig gehüteten Geheimnisses ihres Ziels, ihres einsamen, im Verborgenen wachsenden Ernstes, ihres unglücklichen Strebens.
(siehe: Jürgen Schwalm: „Ich musste es auf meine Weise sagen“ – Annette Kolb – Leben und Werk, 2006)
Jürgen Schwalm
Der weiße Zauber
Annette Kolb und John Ford
München im Sturm und Faschingstrubel.
In dieser Gesellschaft hält beide nichts.
Sie ruft ihm zu. „Ich gehe“.
Da sagt er rasch: „Ich folge nach“.
Das ist die Melodie,
die zwischen ihnen ihren Bogen spannt,
sie aus allen Unzulänglichkeiten aufwärts zieht
in die klare Freiheit der Berge:
Der weiße Zauber ihrer Gipfel
ist mit dem Silberstift
in die Bläue des Himmels gezeichnet.
Es bleibt beim Gruß dorthin.
Denn nach dem steilen Aufwärtsschwung
schaukelt der Tag sie ins Tal.
Dort wartet in die Alm gebettet
altersgebeizt und geduldig
hinter wandgestapelten Holzscheiten
das Haus,
das nach den beiden Ausschau hält.
Dort kehren sie ein
im Gleichklang der Schritte
Schulter an Schulter
und stolz und gemeinsam einsam,
wo der Abend ihnen
ein vergängliches Wunder gewährt.
Denn draußen erblühen trotz Eis und Frost
aus dem braunem Gebälk des Hauses
plötzlich dunkelrot die Geranien,
Blutflora leuchtet im Schnee:
Das Winterwunder eines Augenblicks.
Für einen Wimpernschlag das grenzenlose Staunen.