Freitag, 30. Dezember 2022

Orpheus und Eurydike


 Orpheus und Eurydike


Als ich in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Freiburg /Breisgau studierte, sah
ich Jean Cocteaus Film „Orphée“, in dem die antike Geschichte vom Sänger Orpheus in die
Zeit nach dem 2. Weltkrieg verlegt wurde. In der Folgezeit habe ich mich, besonders nach
mehreren Aufenthalten in Griechenland, immer wieder mit der Orpheus-Thematik beschäftigt
und in den achtziger Jahren eine eigene Version der Geschichte verfasst, die meine
Freundin und Muse Eva Schwieger von Alten außerordentlich berührte. Da die Kenntnis
der Orpheus-Sage heute nicht mehr vorausgesetzt werden kann, sei sie hier kurz in ihrer
klassischen Gestaltung nacherzählt:


Orpheus, der berühmteste unter den mythischen Sängern Griechenlands, der
Hauptrepräsentant der Kunst des Gesanges und des Saitenspiels, war nach der Sage ein
Sohn der Muse Kalliope und des Apollon. Durch die Macht seines Gesanges und des
Saitenspiels konnte er die wildesten Tiere bezähmen und selbst die Steine bewegen. Als ihm
seine durch den Biss einer Schlange tödlich verwundete Gattin Eurydike entrissen worden
war, stieg er selbst in die Unterwelt hinab und vermochte Hades, den finsteren Beherrscher
der Unterwelt, durch seine Musik zu erweichen. Hades gestattete Orpheus, die Geliebte
wieder auf die Oberwelt zurückzuführen. Da aber Orpheus gegen das ausdrückliche Verbot
des Hades sich nach Eurydike umschaute, bevor sie ans Tageslicht emporgestiegen waren,
musste sie für immer zu den Toten zurückkehren. - Auch an der Fahrt der Argonauten soll
Orpheus teilgenommen haben und später, da er sich dem wilden orgiastischen Kult des
Dionysos widersetzte, von wütenden Bacchantinnen zerrissen worden sein.


Eva Schwieger von Alten zeigte meine Version der Orpheus-Sage ihrer Freundin, der
Bildhauerin Ingeborg Steinohrt (1917-1994) in Hannover, und diese beschloss, eine Szene
aus meiner Erzählung in zwei Statuetten darzustellen, wobei sie meine Frau und mich als
Modelle für die Figuren Eurydike / Orpheus auswählte. In meiner Orpheus-Version heißt es
bei der Wiederbegegnung von Orpheus mit Eurydike in der Unterwelt an entscheidender
Stelle:


Staunend steht sie da, streift das Totentuch von der Stirn zurück und fragt: Was ist das für
ein Traum, in den ich hier erwache? Zugleich erkennt sie mit freudigem Erschrecken: Ihr
Götter, das ist ja das Leben, das bist ja du, und sie hebt ihm ihre Hand entgegen, die eben
noch zögerte…


Diese Textstelle realisierte Inge Steinohrt in ihren Statuetten, die durch die Finanzierung von
Eva Schwieger von Alten in Bronze gegossen werden konnten und die Eva Schwieger von
Alten meiner Frau und mir schenkte.

So kann eine Geschichte weitere Geschichten nach sich ziehen und können Worte
tatsächlich Gestalt annehmen.

(Eine ausführliche Fassung der Episode findet sich in dem Kapitel „Wer war Cocteau?“ in:
Jürgen Schwalm „Wort und Bild und Kunst und Leben – Einfälle zu Vorfällen“, Seemann
Publishing, 2021)

Allen Freundinnen und Freunden wünsche ich im neuen Jahr Gesundheit und Zufriedenheit


Euer Jürgen / Jorgos

 

 

 

Freitag, 23. Dezember 2022

Naturspiele


Naturspiele

Mineralien können in ihrer Struktur und Farbe unsere Fantasie anregen. Dann können sie uns mit Bildern täuschen, die uns bezaubern, etwa mit der Darstellung von Blumen und Blättern, Bäumen, Tieren, Gesichtern, Häusern, Ruinen, Landschaften oder Ritterburgen. Meine Mineraliensammlung enthält viele Beispiele für dieses Phänomen. Einige habe ich für Sie auf diesem Foto zusammengestellt:


1. Ein Bild, das den Titel „Die Ruine“ oder „Der Steinbruch“ erhalten könnte, erscheint durch    den vorangegangenen Steinschliff auf einem Achat.

2. „Kräuter und Moose“, die wir auf einem Schieferblock zu sehen glauben, sind keine Pflanzenversteinerungen, sondern Eisen- und Mangandendriten.

3. Die Strukturzeichnung auf der Sandsteinstufe, die eine „Sanddünenlandschaft“ vortäuscht, ist durch Eisenoxid- Einlagerungen bedingt.

5. Einfärbungen im Achat lassen eine „Landschaft mit Bäumen“ entstehen.

6. Auf der Achatbrosche erscheint eine „Alte Stadt“.

7. Die hellen Auflagerungen auf dem schwarzen Basaltblockes ähneln frappierend "Schimmelpilz- und Bakterienkulturen“, bestehen aber aus Aragonit. 9. Auf dem Stein befindet sich keine versteinerte „ Blüte“, sondern das Phänomen wird durch Auflagerungen von kleinen Coelestin-Kristallen hervorgerufen.

Allen, die meinem Herzen nahe stehen, wünsche ich ein gutes Weihnachtsfest!

 Jürgen Schwalm

 

Freitag, 16. Dezember 2022

Voltaire

Voltaire. - Porträt (1736) von Maurice Quentin de la Tour (1704-1788) Bildarchiv Jürgen Schwalm

 

Es gibt unzählige Anekdoten, die sich um Voltaire (Francois-Marie Arouet, 1694-1778) ranken. Einige besonders bezeichnende stehen in der spannenden Biografie “Die göttliche Geliebte Voltaires - Das Leben der Émilie du Châtelet (1706-1749)“ von Samuel Edwards:

1.

Bei einem Empfang bei Madame du Châtelet wurde eine leichte Verlegenheit im Saal bemerkbar, als Voltaire den Bischof von Chauveront begrüßte und sich dabei sehr herzlich nach dem Ergehen des Allmächtigen erkundigte.

2.

Originalton Voltaire: „Das einzig Schöne, das uns bisher hier begegnet ist, das ist die breite, baumbestandene Allee, die vom Eingangstor bis hinauf bis zu dem Schloss Beringhen führt. Ach, und die Gegend ist so karg und die Atmosphäre hier so trübselig, dass Mm. du Châtelets Hunde sich weigern, diese Bäume zu dem von der Natur gewollten Zweck zu benützen.“

3.

Eines Morgens erschien Voltaire bei Hofe und zeigte voller Stolz eine Goldmedaille, in die das Bild des Papstes eingraviert war. Sie kam von Benedikt, und als Voltaire, wie er berichtete, sich beschwert hatte, weil sie so klein sei, hatte der Papst ihm geschrieben: „Dies ist die einzige Größe, die wir haben herstellen lassen. Wir könnten Ihnen keine größere geben, auch wenn Sie Petrus selbst wären.“

                                                                                                        Jürgen Schwalm

 

 

Freitag, 9. Dezember 2022


1. Robert Schwalm, 2. Arthur Nikisch. - Bildarchiv Jürgen Schwalm

Eine Freundin, die sich schon immer über meinen genealogischen Tick (wie sie das nannte) amüsierte, schickte mir das 1904 bei Breitkopf und Härtel herausgegebene Textbuch des Oratoriums „Der Jüngling zu Nain“ nach einer Dichtung von Julius Sturm (1816-1896), das von Robert Schwalm als op. 65.(für Chor, Soli und Orchester/Orgel) vertont worden war. Die Broschüre war ihr, als sie im Bücherschrank nach Schubert-Noten suchte, entgegen gefallen.

Sie fragte: Ist der Jüngling zu Lübeck namens Jürgen mit diesem Robert verwandt? Und was weiß er über den frommen Komponisten?

Natürlich studierte ich gleich meine Akten, fand jedoch keine verwandtschaftlichen Bezüge. Aber Robert Schwalm (geb.1845 in Erfurt, gest.1912 in Königsberg) war in wilhelminischer Zeit ein durchaus anerkannter Komponist. Er erhielt seine erste musikalische Ausbildung in Weimar, wobei er das Interesse Liszts fand, und besuchte dann das Leipziger Konservatorium. Seit 1875 war er Leiter des Königsberger Sängervereins, wurde außerdem dort 1882 Leiter der Musikalischen Akademie und 1881 zum Königlichen Musikdirektor in Königsberg ernannt. Seine Oper „Frauenlob“ wurde immerhin unter dem bedeutenden Dirigenten Arthur Nikisch (1855-1922) in Leipzig 1885 aufgeführt. Nikisch wurde 1895 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker.

In Spemanns 1909 erschienenem Goldenen Buch der Musik wird sowohl Robert Schwalm als auch sein Bruder Oskar Schwalm (1856-1936) erwähnt, der in Berlin die Filiale der Pianoforte-Fabrik von Julius Blüthner leitete, die 1853 in Leipzig gegründet worden war.

Vielleicht meldet sich ein Blog-Leser von den Nachfahren Robert und Oskar Schwalms bei mir?

Jürgen Schwalm

 

 

 

 

Freitag, 2. Dezember 2022

Menzels Fuß


 

Jürgen Schwalm

Menzels Fuß

…Es ist nicht die glatte Schönheit, die uns berührt. Es ist die überwältigende mahnende Kraft der Hässlichkeit, die uns erschüttert.. Es muss nicht unbedingt unser Gesicht sein, das uns verrät.Adolph Menzel (1815-1905), dessen Talent sich wahrlich nicht in der Schilderung friderizianischer Zeiten (Das Flötenkonzert in Sanssouci, 1852) erschöpfte, wagte 1876 als 60-jähriger einen damals unerhörten Tabu-Bruch in der Motivwahl :Er malte ein Selbstporträt, aber er wählte dafür nicht sein Gesicht, sondern seinen – rechten Fuß!

Er malte seinen Fuß so, wie die fotografische Kamera diesen Körperteil erfassen würde, ohne Mitleid mit gnadenloser Sachlichkeit. Die Großaufnahme seines Fußes könnte für medizinische Demonstrationszwecke eingesetzt werden. Auf diesem Fußporträt gibt es bei Menzel erstaunliche Relationen zu entdecken: Die steil nach oben gerichteten, quadratisch verschwollenen Zehen mit der schmerzbedingt angehobenen, verkrümmten Großzehe entsprechen der gefurchten Stirn. Der Fußrücken in der Bildmitte könnte die ramponierte Gesichtsfläche sein, der Schenkelansatz am unteren Bildrand der Hals.

Aber hier wird nicht wie bei Arcimboldo mit dem Witz der Entsprechungen und Täuschungen karikiert; bei Menzel ist die Darstellung todernst in ihrem strengen Realismus: Krampfadern wölben sich auf, livide Verfärbungen verraten Durchblutungsstörungen, Pilze beginnen, die Nägel zu zerfressen. Menzels elenden Fuß hat das Leben verformt; dieser Fuß musste im eigentlichen Wortsinn viel ertragen. In seiner krankhaften Entstellung ist er das Abbild des Lebens in seiner Vergänglichkeit.

Menzel stellte seinen Fuß als Opfer dar, aber nicht als Votivgabe für den Tempel der Kunst. Er weist ihn vor als erschütterndes Memento mori.

(Zitat aus: Jürgen Schwalm: Wort und Bild und Kunst und Leben, Seemann-Verlag, 2021)

 

 

 

Freitag, 25. November 2022

Joseph Victor von Scheffel


 

In meiner Bibliothek befindet sich die 1896 erschienene Luxusausgabe des Trompeters von Säkkingen von Joseph Victor von Scheffel (1826-1886) mit den Illustrationen von Anton von Werner (1843-1915). Die Erstausgabe des Buches, dem Scheffel den Untertitel Sang vom Oberrhein gab, erschien 1854 in Stuttgart.

Bad Säckingen ist eine Kurstadt im Landkreis Waldshut in Baden Württemberg. Scheffel wurde zu seinem Werk durch eine historische Begebenheit aus dem 17. Jahrhundert inspiriert, nämlich durch die Liebesbeziehung zwischen dem bürgerlichen Franz Werner Kirchhofer (1633-1690) und der adligen Maria Ursula von Schönau (1632-1691), die bei Scheffel Margareta heißt.

 Scheffels „Trompeter von Säkkingen“ machte den Ort berühmt; das Werk wurde bearbeitet, dramatisiert, vertont und verfilmt. Das Werk ist zweifellos ein romantischer Sang, doch wird die Romantik an vielen Stellen durch Humor und Ironie entzaubert, nicht zuletzt durch die „tierphilosophischen“ Betrachtungen des Katers Hiddigeigei. Auf S. 151 stolpert man über den Vierzeiler:

Denn der Große frisst den Kleinen,

Und der Größte frisst den Großen:

Also löst in der Natur sich

Einfach die soziale Frage.

Anton von Werner ist der Maler des 1877 entstandenen Bildes: „Die Proklamierung des deutschen Kaiserreiches“ 1871, das in mehreren Fassungen ausgeführt wurde und gro0e Popularität erlangte. Seine Illustrationen zum Trompeter von Säkkingen entstanden in den 1860ger Jahren.

Das Bild (S. 152) zeigt Margareta, die versucht, Werners Trompete zu blasen, was ihr aber nicht gelingt. 

Jürgen Schwalm  

 

  

Freitag, 18. November 2022

Theodor Schwalm: "Fischerboote". Aquarellskizze zu einem später ausgefertigten Ölbild für den Norddeutschen Lloyd in Bremen

 

In den „Lübecker Nachrichten“ (Ausgabe vom 30./31.10. 2022) erschien eine Rezension des Buches von Jürgen Schwalm: Arthur Fitger und Theodor Schwalm – Dokumente einer Künstlerfreundschaft in Bremen (s: Seemann Publishing). Daraus folgen Auszüge:

Die Publikation „Arthur Fitger und Theodor Schwalm“ handelt von zwei Menschen, die – trotz eines gravierenden Unterschieds bei Alter und sozialer Herkunft – eng miteinander verbunden waren. Der aus armen Verhältnissen stammende Theodor Schwalm, Großvaters des Autors, war Zögling des St. Petri-Waisenhauses in Bremen, als Fitger den damals dreizehnjährigen Knaben „entdeckte“. Fitger, ein längst arrivierter, weithin bekannter und geschätzter Maler, suchte gerade ein Modell und fand es in Theodor. Er nahm sich des Jungen an, schulte und förderte dessen künstlerische Veranlagung. Später beschäftigte er ihn als Mitarbeiter bei der Ausgestaltung der dekorativen Wandmalereien etwa in der Bremer Börse oder im Hamburger Rathaus, mit denen Fitger seinen Ruf begründet hatte. Neben der Assistententätigkeit für den väterlichen Freund entwickelte Theodor eine eigene künstlerische Existenz… Der soziale Aufstieg war in jenen Gründerjahren ein großes Thema, es entstanden Bildungseinrichtungen für Arbeiter, in Bremen der Verband „Lessing“ unter tatkräftiger Mithilfe Theodor Schwalms. Die Lebensspur des Großvaters verfolgt nun der Autor, gestützt auf zahlreiche Dokumente und Abbildungen, detailliert. Zu einer reinen Familiengeschichte wird die Darstellung Schwalms trotzdem nicht. Sie überschreitet vielmehr die Grenzen des Privaten und weitet sich zu einem lesenswerten Beitrag von Sozial- und Kulturgeschichte im deutschen Kaiserreich.

 Hermann Hofer.

 

 

 

Mittwoch, 9. November 2022

"Ganz gehorsamstes Promemoria...."

Goethit, Varietät: Brauner Glaskopf, Harz. -Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm

 

Johann Wolfgang von Goethe schrieb im März 1811 an das Landes-Polizeikollegium Weimar (zitiert nach Albert Haueis „Briefe deutscher Klassiker“, 1941):

Ganz gehorsamstes Promemoria.

Nach der älteren, erst vor kurzem unter dem 26. Februar erneuerten Polizeiverordnung, welche den Herrschaften zur Pflicht macht, die Dienstboten nicht bloß mit allgemeinen und unbedeutenden Attestaten zu entlassen, sondern darin gewissenhaft ihr Gutes und ihre Mängel auseinanderzusetzen, habe ich der Charlotte Hoyer, welche als Köchin bei mit in Diensten gestanden, als einer der boshaftesten und inkorrigibelsten Personen, die mir je vorgekommen, ein, wie die Beilage ausweist, freilich nicht sehr empfehlendes Zeugnis bei ihrem Abschiede eingehändigt.

Dieselbe hat sogleich ihre Tücke und Bosheit noch dadurch im Übermaß bewiesen, dass sie das Blatt, worauf auch ihrer ersten Herrschaft Zeugnis gestanden, zerrissen und die Fetzen davon im Hause herumgestreut; welche zum unmittelbaren Beweis gleichfalls hier angefügt sind.

Ein solches gegen die Gesetze wie gegen die Herrschaften gleich respektwidriges Benehmen, wodurch die Absichten eines hohen Polizeikollegii sowohl als der gute Wille der einzelnen, den vorhandenen Gesetzen und Anordnungen nachzukommen, fruchtlos gemacht werden, habe nicht verfehlen wollen sogleich hiermit schuldigst anzuzeigen und die Ahndung einer solchen Verwegenheit einsichtsvollem Ermessen anheim zu geben; wobei ich noch zu erwähnen für nötig erachte, dass es die Absicht gedachter Hoyer war, in die Dienste des hiesigen Hofschauspielers Wolff (1) zu treten.

Beilage

Charlotte Hoyer hat zwei Jahre in meinem Hause gedient. Für eine Köchin kann sie gelten und ist zuzeiten folgsam, höflich, sogar einschmeichelnd. Allein durch die Ungleichheit ihres Betragens hat sie sich zuletzt ganz unerträglich gemacht. Gewöhnlich beliebt es ihr nur nach eigenem Willen zu handeln und zu kochen; sie zeigt sich widerspenstig, zudringlich, grob und sucht diejenigen, die ihr zu befehlen haben, auf alle Weise zu ermüden. Unruhig und tückisch verhetzt sie ihre Mitdienenden und macht ihnen, wenn sie nicht mit ihr halten, das Leben sauer. Außer anderen verwandten Untugenden hat sie noch die, dass sie an den Türen horcht. Welches alles man, nach der erneuten Polizeiverordnung, hiermit ohne Rücksicht bezeugen wollen.

(Anm. 1) gemeint ist der Schauspieler und Schriftsteller Pius Alexander Wolff (1782-1828), der 1803 nach Weimar kam und durch Goethe gefördert wurde.

 

 

 

Freitag, 23. September 2022

Hedwig und Franziska Dragendorff


 

Soeben erschien bei Seemann Publishing: 

Jürgen Schwalm: Hedwig und Franziska Dragendorff

Lebensbilder aus dem 19.Jahrhundert.

Die Neuerscheinung kann als Taschenbuch zum Preis von 14,06 € und

als gebundenes Buch für 17,14 € erworben werden u.a. über

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Zitat aus der Vorbemerkung: Zu den mütterlichen Vorfahren des Autors Jürgen Schwalm gehören Mitglieder der Familie Dragendorff aus Rostock. Einige dieser Ahnen schrieben fesselnde Lebensberichte. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Hedwig Dragendorff (1807-1896), Erzieherin und lebenslang anteilnehmende Freundin des Literaturwissenschaftlers, Dichters, Übersetzers und Kunstsammlers Adolf Friedrich Graf von Schack (1815-1894), der die nach ihm benannte Schack-Galerie in München begründete. Ihre Schwester Franziska Dragendorff (1821-1884) heiratete den Juristen Friedrich Genzken (1817-1875), der 1848 als Strelitzer Abgeordneter zum Frankfurter Parlament (Paulskirche) gehörte.- Hineingeboren in die Welt des sogenannten Biedermeier, eigentlich eine Zeit verheimlichter Rebellionen, durchlebten beide Frauen nach einer behüteten Jugend ein Jahrhundert, das durch tiefgreifende technische Neuerungen und dramatische gesellschaftliche Veränderungen gekennzeichnet war. Der Verfasser sah seine Aufgabe darin, von den Schicksalen dieser Frauen zu berichten, indem er  s i e  berichten ließ.  

 

 

 

Freitag, 16. September 2022

Goethe in Nöten

„Der Karneval des Lebens“. – Masken in der Auslage eines Souvenirladens in Verona. – Foto: Jürgen Schwalm, 2009

Goethe in Nöten

In seiner „Italienischen Reise“ schilderte Goethe eine Episode, die viele amüsiert hat, deren Berichterstattung aber einige Damen seiner Umgebung damals höchst unschicklich fanden.

Goethe betrat am Gardasee eine Herberge und fragte den Wirt, wo man denn hier einmal könne…

Der Wirt gab mit vager Gebärde den Hinweis: „Da unten!“

Goethe wollte es denn doch etwas präziser wissen und fragte nach: „Wo da unten?“

Der Wirt antwortete: „Überall da unten!“

(berichtet nach den Erstausgaben von J.W. v. Goethes „Italienischer Reise“)

 

 

 

 

Freitag, 9. September 2022

Die Pflanze und ihr Leben


 

Und der Mensch der Pflanzenwelt gegenüber? Mannigfach verändernd hat er eingegriffen und die großen Phasen seiner Geschichte sind auch auf dem grünen Blatte der Vegetation verzeichnet. Aber wie hat er gewirthschaftet? … Nun ja, wir wollen ihm den Ruhm nicht abstreiten, daß da, wo Eigennutz und thierisches Bedürfniß ihn trieben, sich wohl der Einzelne auf seinen Vortheil verstanden hat, aber dann mit Mitmenschen und Nachwelt nur gezwungen durch Naturgesetze den erlangten Vortheil theilend. Hingegen da, wo kein augenblicklicher Vortheil für ihn im Unterstützen der Natur oder auch nur im Schonen derselben lag, wo es sich ja nur um das Elend von ein Paar Millionen Nachgeborner handelte, hat er mit barbarischer Rohheit zerstört und vernichtet, auf Jahrtausende hinaus oft nicht nur ihm, sondern auch seinen Nachkommen verliehenen Segen Gottes liederlich verschleudert. Und hat er sich bemüht, den Tempel Gottes zur allgemeinen Verehrung zu schmücken und zu heiligen? O nein, bei seinem eigennützigen Treiben, bei den Kummerthränen des durch seine Schuld elend gewordenen Bruders, bei dem Heulen des gepeitschten Sclaven war ihm die beständige Erinnerung an Gott unangenehm und störend, er erklärte das Wehen des göttlichen Odems in der Natur für ein Ammenmährchen, um nicht mehr durch sein Gewissen erschreckt zu werden. Die Schönheit, der Ausdruck des Göttlichen in der Natur verschwand vor der eigennützigen Ausbeutung der Pflanzenwelt und höchstens, engherzig nur für sich sorgend, grenzte sich der Einzelne ein Räumchen ein, in dem er die Schönheit der Natur nicht als Cultus, sondern als Sinnenreiz pflegte. Das sind bis jetzt die Thaten der Menschen, nach Jahrtausenden hoffen wir Besseres berichten zu können…Aber spottend möchten wir dem Geschrei über unsere hohe Bildung entgegentreten, da doch jede ernste ethische Betrachtung der Geschichte uns sagen könnte, dass wir uns kaum etwas aus dem Koth der tiefsten Erniedrigung und Rohheit hervorgearbeitet…

Dies ist ein nach wie vor aktuell gebliebenes Zitat aus dem erstmals 1848 in Leipzig erschienenen Buch „ Die Pflanze und ihr Leben“ von Matthias Jakob Schleiden (Hamburg 5.4.1804 -23.6.1881 Frankfurt /Main), Prof. der Botanik in Jena, 1863-1866 Prof. der Botanik und der Anthropologie in Dorpat. Schleiden lehrte, dass alle Pflanzenteile aus Zellen bestehen und dass sich der embryonale Pflanzenorganismus aus einer Zelle entwickelt, eine damals epochale Erkenntnis.

Ein Exemplar des Buches „Die Pflanze und ihr Leben“ befand sich auch in der Bibliothek meines Urgroßvaters Georg Dragendorff (Rostock 20.4.1836 – 7.4.1898 Rostock), Prof. der Pharmazie an der Universität Dorpat (1864-1894).

Das Exemplar, aus dem ich zitiere, wurde mir im Juni 1977 aus Magdeburg von dem Anatom und Neurobiologen Helmke Schierhorn (1934-1986) geschenkt.

Das Buch von Schleiden enthält 5 farbige Tafeln und 13 Holzschnitte, die vom Autor gezeichnet und in der Lithographischen Anstalt von J. G. Bach in Leipzig reproduziert wurden. Auch das oben wiedergegebene Titelblatt stammt von Schleiden.

Jürgen Schwalm

 

 

 

 

Freitag, 2. September 2022

Schallgehäuse


Jürgen Schwalm: „Entwurf einer Akropolis“, Collage, 1992

 

Jürgen Schwalm 

 

Schallgehäuse

 

Die Zeit: Ein Meer aus Glas

und abgesunken im Ultramarin

meine südlichen Orte

am Grund der Träume

 

Weiße Häuser an steilen Wegen

und an die oberste Mauer gepresst

da wo das Licht noch fließt

flüstert eine unermüdliche Heilige

Gebete für ertrunkene Tage

in das schimmernde Ohr der Muschel

 

 

 

 

(aus: Griechische Zeilen)

 


Freitag, 26. August 2022

Ikaros

Jürgen Schwalm: „Ikaros“, Collage, 2021



Jürgen Schwalm

Ikaros

Nun lass dein buntes Gefieder singen, geliebter Seelenvogel, tiefvertrauter, du, und jage die Wolken für mich in die Flucht. Nimm mir den Nebelwürgegriff vom Hals und zieh mich aus der Betäubung hinauf zum geschliffenen Licht. Deine wilden Schreie dringen auch aus meiner Kehle. Flieg auf und trink die Sonnenschalen leer für mich. Ich war verloren, doch du hast mich gefunden. Du hast mich gerettet und bei dir aufgenommen. Beschwingt waren deine kühnen Schultern, als du mich mit dir in unseren Himmel nahmst. Nie mehr fürchte ich seitdem die Tiefen, weil ich einmal mit dir das Ziel erreichte. Tropfte droben auch das Wachs aus deinen Flügeln, Ikaros, mein Seelenvogel, du, ich ängstigte mich längst nicht mehr, als deine Schwingen auseinander fielen, weil deine Arme mich umschlangen, indem du mit mir abwärts glühtest. Im Sturz trafst du mein Herz als Brandfackel. Wir landeten und waren zu uns heimgekehrt. Der Schatten unserer Lagunenstadt schützt unser Geheimnis: 
Einst werden wir wieder gemeinsam schweben 
im Licht.

 

 

 

 

 








 

 

 

Freitag, 19. August 2022

Das Henkelkreuz

Jürgen Schwalm: Das Henkelkreuz. Hinterglastechnik, 2019. Die Schleife des Kreuzes ist mit Rot ausgefüllt als Farbe des Lebens und der Liebe. Das Kreuz führt aus dem Schwarz der Nacht und des Todes zum Weiß des Tages und des Lichtes.

Jürgen Schwalm: Der Schutzengel. Hinterglastechnik 2019. Das Henkelkreuz diente als Motiv für den Engel.


 Das Henkelkreuz

Es ist ganz falsch, bei der Beschäftigung mit der altägyptischen Theologie das Augenmerk allzu sehr auf den Totenkult zu richten. Alle beim Totenkult eingesetzten komplizierten Rituale und alle Beschwörungen aus den Totenbuch-Texten galten nicht der Verherrlichung des Todes, sondern dem Abschied vom Tod.

Auch bei den alten Ägyptern stand nicht der Tod im Zentrum des Glaubens, sondern der entscheidende Weg zum Glück und zur ewigen Seligkeit führte immer aus dem Todesschatten ins Licht, und das Licht war das Leben.

Darin unterschied sich die altägyptische Religion gar nicht entscheidend von der christlichen, und tatsächlich hat das Christentum Bilder aus der altägyptischen Glaubenswelt übernehmen beziehungsweise umdeuten können (Beispiel: Isis und der Horusknabe wird zur Maria lactans mit dem Jesuskind).

Das Symbol für das ewige Leben war bei den Ägyptern das Henkelkreuz     (= das Anch-Zeichen, die Crux ansata, die Lebensschleife). Das Henkelkreuz wurde als koptisches Kreuz zum Symbol der koptischen Kirche und damit wie jedes Lebens- und Lichtzeichen auch ein Symbol für die Liebe als lebenserneuernde Kraft und Macht.

Jürgen Schwalm

 

 

 

 



 

Freitag, 12. August 2022

Liebe

„Stein-Paar“. Zwei Buchstützen, aus einer großen Amethyst-Druse geschnitten, halten den Sammelband „Das heiße Raubtier Liebe – Erotik und Surrealismus“, herausgegeben von Heribert Becker.

 

Jürgen Schwalm 

 

Liebe

Wir hatten uns gekannt,

bevor wir uns begegneten,

wir hatten uns längst begrüßt,

umarmt,

geküsst,.

geliebt.

Als wir uns trafen,

war es nur ein Wiederfinden.

 Der Raum war aufgebaut,

die Zeit bestimmt.

Wir wussten jedes Wort,

das wir sagen würden,

bis die Worte überflüssig wurden,

bis es kam, wie es kommen musste,

das Tasten,

das Berühren,

das Durchdringen,

bis wir gemeinsam

 wieder im Anfang versanken

zum Neubeginn.

 

 

 

 

 

Freitag, 5. August 2022

Sommermittag

Jürgen Schwalm: „Erinnerung an Rhodos“, 2005. Schaukasten mit Glasmalerei und einem weißen Kochlaki-Kiesel aus Rhodos

 

Jürgen Schwalm

Die Musik ist mit der Lyrik eng verwandt. Lyrik kann Musik sein und Musik lyrische Dichtung. In meinem Gedicht „Sommermittag“ erklingt mit dem Satz „Fern der Horizont hat ganz vergessen, dass sein Blau schon längst der Himmel ist“ eine frühe Inspiration, die ich in späteren Gedichten lyrisch variierte:

 

Sommermittag

Röstet am Ufer Sand und Tang,

wird das Meer zur Sonnentränke.

Die Luft verflirrt im Möwentanz.

Fern der Horizont hat ganz vergessen,

dass sein Blau schon längst der Himmel ist.

 

(geschrieben 1954)

 

 

 

 

 

Freitag, 29. Juli 2022

Worte halten ihr Wort

Margret Knoop-Schellbach (1913-2004): „Das blühende Herz“, reliefierte mit Acrylfarben bemalte Metallplatte. Widmung und Signatur auf der Rückseite: „Margret Knoop-Schellbach Geschenk an Familie Dr. Schwalm zum Umzug nach Lübeck im Januar 1966“. Das Bild wurde von der süddeutschen katholischen Bauernmalerei inspiriert.

 

Jürgen Schwalm 

Worte halten ihr Wort

Zur Lyrik von Doris Runge 

Formulierungen auf den Punkt zu bringen, ohne ihren Zauber zu brechen, darauf kommt es dir an.

In ihrer Disziplin hat deine Lyrik heilende Wirkung. Denn deine Stimme vermag auch meine Gedanken aus ihrer Befangenheit zu lösen, und du kannst für mich aus meinem Wesen mit seinen Nachtschwärzen und seinen Leuchtfeuern die Quintessenz destillieren, ohne die Märchen und Mythen zu verraten, die sein Geheimnis ausmachen.

In der Alchemie verwandte man den Begriff des „Äthers“, den die Literatur übernommen hat. Du weißt um den Wert dieses Stoffes, der alle Elemente unseres Lebens infiltriert und bereichert. Du achtest ihn, indem du ihn nicht durch Definitionen entwertest.

Jedes Wort deiner Lyrik trägt Verantwortung und übernimmt die Konsequenz.

 

 

 

 

Freitag, 22. Juli 2022

Zur aktuellen Lage

Umschlagdeckel der Wiener Lesemappe vom Januar 1932 (meinem Geburtsmonat und -jahr) u.a. mit dem Werbeslogan für Darmol, den damals jeder im deutschsprachigen Raum ebenso kannte wie den „Darmol-Mann“, der zur Toilette eilt: „Nimm Darmol – Du fühlst dich wohl“. – Darmol war ursprünglich ein Phenolphthalein enthaltendes Abführmittel; die Zusammensetzung wurde im Laufe der Zeit mehrfach abgeändert. – Foto und Sammlung: Jürgen Schwalm

 

Zur aktuellen Lage


Immer und überall auf der Welt ähneln sich die Anweisungen, mit denen die Bevölkerung in Krisenzeiten zu Sparmaßnahmen aufgefordert werden sollen, auf fatale Weise.

1943, mitten in der Tragödie des Weltkrieges, lernte ich als Elfjähriger folgende Zeilen aus einer heute noch existierenden Zeitung auswendig:

Der Alltag lehrt so mancherlei,
teils ungestüm, teils nebenbei.
Zum einen, wie man Eisen spart,
das man der Rüstung aufbewahrt.
Zum andern, Tataratta-Creme
ist wirkungsvoll und angenehm,
auch wenn man wenig von ihr streicht,
damit die Packung lange reicht.

Den Namen des Produktes habe ich geändert, um keine juristischen Auseinandersetzungen loszutreten. 

Als ich meiner Mutter damals den Werbespruch vortrug, kommentierte sie die Versorgungslage trocken: 

„Tataratta-Creme ist immer schon weg, wenn ich sie brauche.Das ist wie bei meinen Seidenstrümpfen. Aber warum soll ich die schonen, wo ich doch nicht weiß, was morgen schon passiert sein kann. Laufmaschen kriegen sie sowieso alle sofort, und wann ich mal wieder zu neuen Seidenstrümpfen komme, verrät mir keiner. Also trag ich sie jetzt auf.“

Immer wieder versucht man von allen Seiten, uns beim Verbrauch lebensnotwendiger und die Lebensqualität verbessernder Produkte durch geschmeidig oder penetrant formulierte Parolen zur Einschränkung und Enthaltsamkeit aufzufordern und schließlich zu verpflichten. Es sollte aber stets bei allen Maßnahmen beachtet werden, dass die Menschen ihre Würde und ihre Rechte behalten.

Jürgen Schwalm

 

 

 

 

Freitag, 15. Juli 2022

Meiner Frau in Memoriam

Foto: Jürgen Schwalm

 

 

Jürgen Schwalm

MEINER FRAU IN MEMORIAM

 

Als ich heute Morgen aus dem Zimmer

zum Rosenstock im Garten,

den du vor deinem Tod gepflanzt,

hinübersah,

berührte mich ein Anblick jäh und zart.

 

Auch in der Nähe von dem Bild gebannt,

steh ich noch immer staunend da.

 

Es könnte ja die plötzlich aufgeblühte

dunkelrote Rose mir von dir

aus einem andern Land,

an das ich dich verlor,

als Gruß gesendet worden sein.