Samstag, 24. Februar 2018

Noli me tangere

Jürgen Schwalm: “Noli me tangere”, Collage, 2017


Jürgen Schwalm

Noli me tangere

Wenn du
den immergrauen Schal
 um dich legst,
 der die Aura jungfräulicher Geburt
wie urzeitlichen Lavendelduft verhaucht,
 werden deine ungeküssten Schultern
in alle Ewigkeit weiterfrösteln.
Deine Lippen lächeln sacharinsüß
und verkräuseln
 allein schon das Wort Hormon
als unmoralisch.
Der permanente Schreck
deiner Blicke
lässt jeden Zuspruch
als Schnee verrieseln,
der deinen Scheitel weißt.
Deine wenigen unterernährten Wünsche
 liegen in verschlossenen Schubladen
mit rosa Seidenschleifen umwickelt,
die keiner lösen will und darf.

(in: Aus Nimmermehr ein Immermehr)



Samstag, 17. Februar 2018

Die Geschichte vom Einhorn

Jürgen Schwalm: “Die Zähmung des Einhorns”, Collage 
(unter Verwendung eines Fotos des sogen. Malterer-Teppichs, 
Anfang 14. Jh., Freiburg/Brsg), 2018

Jürgen Schwalm


Die Geschichte
vom Einhorn
 
Das Einhorn lebte schon in der Antike. An der Grenze zur Neuzeit zog sich das Tier zurück. Künstlern begegnet es manchmal noch in ihren Träumen, wie es meiner Freundin, der Malerin Eva, geschah. Sie wollte zeichnen, was sie sah: Ein schneeweißes Wesen mit einem Pferdekopf und gelockter Silbermähne. Allerdings huschte das Tier so schnell vorbei, dass sie allein einige zarte Umrisslinien skizzieren konnte. Nachher war sie nicht mehr sicher: Vielleicht war es doch nur ein Schimmel gewesen.
Aber Eva ergänzte in ihrer Zeichnung die Stirn des Pferdekopfes mit einem gedrehten Narwal-Horn, das sie in einem verstaubten Apothekenfundus entdeckt hatte; und da sie damit schon im medizinischen Bereich angekommen war, wand sie gleich noch eine Äskulapnatter um den langen spitzen Stirnfortsatz. Derart restauriert sprang das Einhorn, auf Exlibris-Blättchen vervielfältigt, in die Buchdeckel meiner ärztlichen und belletristischen Bibliothek, wo es nun mit großen dunklen Augen, in denen alle Geheimnisse abgrundtief versinken, meine Lektüre schmückt.
Ursprünglich zeigte das Tier seine Absichten ganz offen mit seinem Attribut, dem Horn, mit dem das Tier zustieß. Nachher hingen Blutbeeren an seiner Waffe, und der Verlust, den das Opfer erlitten hatte, war nicht wieder rückgängig zu machen.
Einst drängte das Einhorns mit seiner Waffe auch in den Schoß der allerheiligsten Jungfrau Maria. Die eindeutigen Absichten des Einhorns mussten von der christlichen Kirche aus der Welt geschafft werden. Schließlich durfte das von Maria gezähmte Tier der Himmelkönigin nur noch wie ein Schoßhund die Pfote reichen.  
Das derart bekehrte und entschärfte Einhorn überließ man dann den Jägern. Die hatten dem Tier zuvor so gerne aufgelauert in finsteren Wäldern und dunklen Verstecken. Aber da sie es nie hatten finden und erlegen können, war die Jagd schließlich nicht mehr lustig und man gab sie ganz auf.  Es ging ja auch nicht mehr um das stolze und wilde Einhorn von einst.
Die Kraft seines Attributes übernahmen fortan andere Geschöpfe, die sich viel skandalöser austobten. Das Einhorn zog sich leider nicht in die nach ihm benannte Höhle in Herzberg am Harz zurück, wo Touristen vergeblich nach seinen Relikten suchen. Es verkroch sich schließlich für immer in harmlose Kindermärchen und in die Stopfwolle von Plüschtieren.

(aus: Der Lebens-Baum, Betrachtungen)



Sonntag, 11. Februar 2018

Bastet

Jürgen Schwalm: “Das Geheimnis der Bastet”, Assemblage, 2017


Jürgen Schwalm

Bastet

Aus der Tünche der Pharaonenjahre,
den unverblichenen Sedimenten einstiger Nilsommer,
löst du dein Katzenprofil,
erinnerst die Gefolgschaft der Felidae
wieder an den scharfen Geruch deiner Inszenierungen.
Deine Träume, Königin-Göttin, sträuben dein Fell.
Unter dem Baldachin der Papyrosschirme
sammelt dein samten-graziöser Schritt
wieder die alten Würden ein.
Du schiebst das Muster deiner Ornate auf mich zu,
ordnest die Weichheit deiner Haare um mich her,
aber die Lanzen deiner Krallen
impfen mich mit Schlägen,
treiben mich in deinen Blick
durch die Iristore in deine Tempelstadt,
tief unten, in steinerne Verliese.
Dort beißt du endlich zu und opferst mein Blut
auf dem Altar deines Heiligtums.

(aus: Archaische Träume)



Sonntag, 4. Februar 2018

Das Alphabet der späten Stunden


Jürgen Schwalm: “Die Architektur der Nacht”, Objekt, 2017


Jürgen Schwalm

Das Alphabet der späten Stunden


Wenn die Wände sprechen könnten,
diese wunderbaren Speicher der Regale.

Hier werden Mythen in klugen Büchern verwahrt,
verborgene Pfade mit der Schreibhand erforscht.

Im Alphabet der späten Stunden warten Freunde in jeder Zeile.

Da werden auch fremde Sprachen
keilschriftlich bildlich
aus fernen Ländern herbeigelockt
zu traulich nächtlicher Runde
mit Trank und zierlicher Speise.

Wenn es draußen kälter wird,
zeigt die Kerze ihre warme Blüte,
rücken wir näher vom Schatten ins Licht,
Arm in Arm und Wort für Wort.




(aus: Festschrift für Bodo Heimann, 2015)