Freitag, 26. April 2024

(Foto: Gisela Heese)

 

Kaiser Wilhelm II und Hans Dragendorff

Meine Großeltern Hans Dragendorff und Marie Dragendorff, geb. Rein; Foto um 1900. Bildarchiv Jürgen Schwalm

 

Im August 1897 schrieb Bernhard von Bülow (1849-1929), von 1900-1909 Reichskanzler, über Wilhelm II (1859-1941), von 1888-1918 deutscher Kaiser:

 „S. M. als Mensch reizend, rührend, hinreißend, zum Anbeten; als Regent durch Temperament, Mangel an Nuancierung und zuweilen auch an Augenmaß, Überwiegen des Willens über die ruhig-nüchterne Überlegung…von schwersten Gefahren bedroht, wenn er nicht von klugen und namentlich von ganz treuen und sicheren Dienern umgeben ist. Davon wird es abhängen, ob seine Regierung ein glänzendes oder ein düsteres Blatt in unserer Geschichte ausfüllt. Bei seiner Individualität ist beides möglich.“

Diesen Sätzen hätte mein Großvater, der Archäologe Prof. Dr. Hans Dragendorff (1870-1941), zugestimmt, wurde er doch, seit 1911 Leiter des Archäologischen Institutes in Berlin, mehrfach zu Arbeitsessen und Arbeitsgesprächen mit dem Kaiser in das Berliner Schloss geladen. Dragendorff hat in Gesprächen mit meiner Mutter (Lotte Schwalm, geb. Dragendorff) immer betont, dass er dabei alle archäologischen Anliegen der Zeit, vor allem auch die finanziellen Probleme bei Grabungen, offen ansprechen konnte, und dass der Kaiser rasch bereit war, Lösungen zu finden bzw. zu delegieren, wobei er bei  Engpässen sogar die eigene Schatulle öffnete. Dragendorff sagte zu meiner Mutter, dass der Kaiser bei gründlicher Ausbildung vielleicht sogar ein guter Archäologe geworden wäre, da er wirklich Interesse an dem Fach gehabt hätte.

Als Kind war ich natürlich mehr an der Schilderung der Äußerlichkeiten dieser Treffen interessiert. Mein Großvater sollte mir dann vormachen, wie der Kaiser aß, nämlich wegen der Armlähmung nur einhändig, d.h. feste Speisen bekam er aufgeschnitten serviert. Da der Kaiser auch noch sehr schnell aß, die von ihm angesprochenen Gäste nichts essen durften und die Teller sofort abgeräumt wurden, wenn der Kaiser fertig war, kam mein Großvater nie zum Essen. War die Kaiserin Auguste Viktoria dabei, verzögerte sie, weil sie Mitleid mit den Gästen hatte, absichtlich das Essen, denn dann wurden die Teller erst fortgenommen, wenn sie -und nicht der Kaiser – fertig war. Bei Dragendorff erkundigte sich die Kaiserin einmal freundlich nach den Kindern, aber „das war rein rhetorisch; sie hatte keine Ahnung“, sagte mein Großvater.

Jürgen Schwalm

 

 

 


 

Freitag, 19. April 2024

Veranstaltung des Lübecker Autorenkreises am 25. April 2024

Jürgen Schwalm: Dramatische Landschaft, Acrylfarben auf Malkarton, 2012

 

Hinweis auf eine Veranstaltung des Lübecker Autorenkreises (Leitung Klaus Rainer Goll): Am Donnerstag, d. 25. April 2024, ab 16.00 Uhr, liest Jürgen Schwalm im Wiener Caféhaus, Lübeck, Breite Straße 62, ernste und heitere Texte aus seinen in den letzten Jahren erschienenen Publikationen.

Zitat aus der Einleitung:

…1976, in einer Zeit, als die Züge noch die Abfahrts- und Ankunftstermine einhielten, schrieb ich das Gedicht

 

Dreiundzwanziguhrneun

 

Du kamst mit dem Nachtzug –

Die Dunkelheit löschte die Entfernungen –

Die Signale waren auf Heimkehr gestellt –

Die Bahnhofshalle rollte den Schienenteppich aus –

Die Lampen bogen sich zum Empfang –

Meine Erwartung durchbrach die Sperren –

Vorm letzten Zeigersprung

riefen die Lautsprecher

nur noch persönliche Nachrichten aus –

Bei der Einfahrt suchte mich dein Blick –

Als ich ihn fing waren alle deine Reisen am Ziel –

Ankunftszeit Dreiundzwanziguhrneun –

Endstation

 

Damals fand in Bad Mergentheim der Weltkongress der Schriftsteller-Ärzte statt. Da las ich dieses Gedicht, und am Schluss trat Ilse Benn (1913-1995), die Frau von Gottfried Benn (1886-1956), auf die Gruppe zu, bei der ich stand, und sagte: „Endlich einmal einer, der noch ein Bahnhofsgedicht scheibt, meinen Mann hätte es gefreut.“ – Am nächsten Tag fand ein Busausflug mit den Autoren statt, da hörte ich, wie ein Autor in der Reihe hinter mir zu seinem Nachbarn so laut und deutlich, dass ich es hören musste, sagte: „Der Schwalm? Das ist auch bloß ein Protegé der Benn.“ – Als ich das meinem Freunde Armin Jüngling erzählte, sagte er: „Wenn ein Autor wegen eines anderen Autors neidisch wird, lästert er gleich so lange über alle seine Autorenfreunde mit, bis er am Schluss nur noch Autorenfeinde hat.“ -  Dieses Bonmot wollte ich Ihnen nicht vorenthalten…

 

 

 

 

 

Freitag, 12. April 2024

Venedig

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Cover eines Leporellos: 64 Fotos von Venedig; die italienische Ausgabe enthält keine Quellenangaben, erschien aber, wie sich aus einer Bildlegende ableiten lässt, nach 1933. Die Fotosammlung erwarb mein Großvater Theodor Schwalm im April 1935, als er sich mit seinem Sohn Eduard und seiner Schwiegertochter Tilly in Venedig aufhielt. - Die Musikstadt Venedig ist übrigens ein Schwerpunktthema des diesjährigen Schleswig - Holstein Musik Festivals (SHMF 2024).


 Jürgen Schwalm

Venedig

Obwohl Brunetti vom Ort eines gewaltsamen Todes zurückkehrte, konnte er nicht verhindern, dass sein Herz höher schlug beim Anblick der Glockentürme und der pastellfarbenen Fassaden, die vor ihm auftauchten, als das Polizeiauto über die Brücke fuhr. Schönheit änderte nichts, das wusste er, und vielleicht war der Trost, den sie spendete, nur eine Illusion, aber dennoch begrüßte er diese Illusion.

 Donna Leon, Venezianische Scharade,1996


Wo die Paläste an Mörtelfraß leiden
und an fauliger Gangrän,
wo die Fassaden verschimmeln
und die Wasserstraßen stinken,
können Brücken nur darüber seufzen,
dass sich dort noch immer
so viele Liebende vergondeln lassen,
in sentimentaler Verblendung
die Hochzeitsringe tauschen,
um schließlich doch
im Tränenmeer der Lagune zu versinken.

 

 

 

Donnerstag, 4. April 2024

Das Haus "Zum halben Monde"

 

Jürgen Schwalm

Das Haus „Zum halben Monde“

Im Februar 1974 übernahm ich die Praxisräume im 1. Stock des Hauses Sandstraße 16. Das Haus hat die alt-ehrwürdige Bezeichnung Zum halben Monde und ist noch heute an der Fassade durch ein Schild mit einem goldenen Halbmond gekennzeichnet, dessen Absturz ich allerdings immer befürchtete, wenn der Sturm allzu sehr durch die Sandstraße pfiff und an der Mauerverankerung des Schildes rüttelte.

In dem Haus befand sich seit 1812 die von Friedrich Ferdinand Suwe begründete und nach ihm benannte „Suwe’s Apotheke“.

Friedrich (Fritz) Ferdinand Suwe (geb. 1777 in Gnoien/Mecklenburg, gest. 1851 in Lübeck) war von Jugend an außerordentlich geschäftstüchtig; er war der geborene Kaufmann. Schon als Gehilfe in der Lübecker Ratsapotheke steigerte er deren Umsatz derart, dass ihm als Ausgleich gestattet wurde, nebenbei für eigene Rechnung einen Handel mit „Englisch Pflaster“ zu betreiben. Dieser lief so gut, dass Suwe, der nie studiert hatte, sondern ein Mann der Praxis war, sich 1806 eine eigene Apotheke kaufen konnte: die damalige Halbmond-Apotheke in der Holstenstraße.

Vom 6.- 9. November 1806 wurde Lübeck von französischen Truppen geplündert. Suwe überstand auch diese Prüfung. Er hatte die Schaufenster seiner Apotheke selber eingeschlagen, in seiner Offizin Tische und Schränke umgeworfen und „Sößlinge“ und sonstiges Kleingeld auf dem Fußboden verstreut, und der Trick gelang: als die Marodeure kamen, dachten sie, es wären schon Plünderer dagewesen und trollten sich gleich wieder.

Als Lübeck französische Stadt wurde, schmuggelte Suwe in großem Stil, wozu Napoleons gegen England gerichtete Kontinentalsperre geradezu herausforderte. Er stapelte Kaffee und Zucker in eigenen Niederlassungen in Steinrade und Stockelsdorf und brachte die Schätze in dunklen Nächten nach Lübeck.

Alle Lübecker hatten damals unter den Kontributionen viel zu leiden, doch die vor Lübeck zusammengezogenen Truppenkontingente brauchten viele Medikamente, und so glich sich der Verlust für ihn wieder aus. In der Notzeit waren die Grundstückspreise enorm gesunken. Suwe nützte das aus und erwarb 1812 das große Lübecker Giebelhaus in der Sandstraße, in dem er die Halbmond-Apotheke errichtete.

Als 1831 Dampferlinien nach St. Petersburg, Riga und Reval eröffnet wurden, profitierte Suwe auch davon. Seine Medikamente waren in Petersburg und im Baltikum sehr begehrt, und in Lübeck belieferte er das berühmte Institut von Dr. Leithoff in der Schildstraße.

Der Junggeselle Suwe hatte sich nie dafür interessiert, sein Geld vernünftig anzulegen. Und so fanden seine Erben, ein Bruder und zwei Neffen, nach seinem Tode zu ihrem Staunen in vielen Zimmern, Sälen und Kabinetten des großen Hauses in der Sandstraße beträchtliche Geldsummen unverschlossen gestapelt, die Suwe dort abgelegt hatte. Auch hinter den Paneelen seiner Wohnstube soll er gespartes Geld versteckt haben.

Von Suwe, der ein Original gewesen sein muss, sind noch zahlreiche weitere prachtvolle Geschichten überliefert.

Zum 1. Januar 1850 hatte Suwe seine Apotheke an Gustav Schliemann übergeben, der seinem Vorgänger einen ausführlichen Nachruf widmete, der 1852 in den „Neuen Lübeckischen Blättern“ publiziert wurde.

Das Haus „Zum halben Monde“ hatte ursprünglich eine große lübsche Diele, die etwa der Diele entsprach, die man heute im St. Annen-Museum bestaunt. Die alte Kaufmannsdiele in der Sandstraße wurde erst 1911 bei einem Umbau des Gebäudes entfernt.

Palmarum 1942 wurden bei dem verheerenden Luftangriff auf Lübeck alle Häuser der Sandstraße zerstört, nur die Fassade des Hauses „Zum halben Monde“ blieb stehen. Das ist auf zahlreichen historischen Fotos dokumentiert. Gleich nach dem Krieg hat eine Erbengemeinschaft das Haus – unter Verwendung alten, noch brauchbaren Baumaterials – wieder aufgebaut, sich allerdings nicht entscheiden können, auch das obere Giebelgeschoss in die Planung einzubeziehen. So schließt das Gebäude noch heute mit einem Flachdach ab.

Die Apotheke wurde von Ingeborg und Joachim Nevír geleitet; mit beiden verband mich eine hervorragende Zusammenarbeit und wir schätzen uns sehr.

In der Sandstraße habe ich bis zum 4. Quartal 1996 praktiziert. Die Apotheke in der Sandstraße hat inzwischen längst einen neuen Besitzer und heißt nach fast zwei Jahrhunderten jetzt Pegasus-Apotheke.

 


 

 

 

 

 

 

 

 

Abb. 1: 

Suwe erhält 1812 die Erlaubnis, eine Apotheke leiten zu dürfen. Lübeck war von 1806-1813 französisch besetzt (sog. Franzosenzeit), deshalb wurde das Dokument zweisprachig  abgefasst (Dokument im Stadtarchiv Lübeck)

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abb. 2: 

Karl Gatermann d.Ä. (1883-1959) : Die alte Kaufmannsdiele im Hause Sandstraße 16 (Lübecker Stadtarchiv)

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Abb. 3: 

Der Pfeil weist auf das "Haus zum halben Monde" in der Sandstraße Nr. 16, Foto aus den 1930ger Jahren

 

 

Abb. 4: 

Das Haus Sandstraße 16  nach der Zerstörung Palmarum 1942