Freitag, 27. Oktober 2023

Grabschrift

Bild - Reliquiar aus Carcassonne /Frankreich, 19. Jahrhundert, erworben am 28.7.1985. Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm.- Das Bild enthält u.a. Reliquien-Partikel von St. Paulus (Mitte), St. Felicitas, St. Juliana, St. Augustinus und St. Urban

 

In einem am 12. Oktober 2023 in den Lübecker Nachrichten publizierten Interview stellte die Redakteurin Petra Haase der Schriftstellerin Helga Schubert u.a. die Frage: „Sie sind Christin, glauben Sie an die Auferstehung und das ewige Leben?“ Helga Schubert antwortete: Ich glaube an eine ganz große Geborgenheit, in der wir alle leben werden.

Die Antwort erinnerte mich an meine 1976 geschriebene und im gleichen Jahr erstmals publizierte

 

GRABSCHRIFT

 

WEIL ICH STARB

VERLOR ICH MEINEN TRAUM

DEN TRAUM

DEN ICH LEBEN NANNTE /

ES WAR EINMAL EIN TRAUM

IN DEM DIE TAGE SCHWIEGEN

IN DEM DIE NÄCHTE RIEFEN/

ES WAR EINMAL EIN TRAUM

IN DEM MEIN LEBEN SCHLIEF

IN DEM MEIN TOD ERWACHTE/

ICH SCHRITT AUS MEINEM TRAUM:

JETZT SCHWEIGEN DIE NÄCHTE/

WAS MIR MEIN TRAUM VERWEHRTE

GAB MIR MEIN TOD:

RUHE

DIE ICH NUN LEBEN NENNE

 

       Jürgen Schwalm

 

 

 

 

Freitag, 20. Oktober 2023

Minos

Minoische Doppelaxt („Amazonenaxt“). In Griechenland verfertigtes Bronze-Imitat
nach Funden im Archäologischen Museum in Heraklion / Kreta. - Sammlung und Foto:
Jürgen Schwalm.
 

Die griechische Bezeichnung für die Doppelaxt, Labrys, steht in Verbindung mit dem
minoischen Labyrinth („Haus der Doppelaxt“). Zur Erläuterung das Folgende:
Ariadne war die Tochter des Königs Minos und seiner Gattin Pasiphae, die eine Tochter des
Sonnengottes Helios war. Auf Kreta galt Ariadne auch als Fruchtbarkeitsgöttin. Ariadne hatte
einen Halbbruder, den stierköpfigen Minotaurus, der einer Beziehung der Pasiphae mit
einem Stier entstammte. Der Minotaurus musste in dem auf Kreta von Dädalus erbauten
Labyrinth gefangen gehalten werden. Die Athener wurden dazu verpflichtet, alle neun Jahre
sieben Jungfrauen und sieben Jünglinge als Menschenopfer für den Minotaurus nach Kreta
zu schicken. Als das Opfer zum dritten Mal fällig war, ließ sich der Königssohn Theseus in
die Gruppe der Verdammten einschleusen, um den Minotaurus zu töten. Ariadne verliebte
sich in Theseus und erklärte sich auf ein Eheversprechen bereit, Theseus dabei zu helfen.
Auf Dädalus‘ Anraten gab sie Theseus ein rotes Wollfadenknäuel ( „Faden der Ariadne“),
dessen Anfang er am Eingang des Labyrinths befestigte und mit dessen Hilfe er nach dem
für ihn erfolgreichen Kampf wieder aus dem Labyrinth herausfand.
Im minoischen Palast von Knossos fand man die Doppelaxt als Bemalung an Wänden und
Säulen; sie wurde auf Siegeln, Schmuck und Sarkophagen dargestellt. Sie diente
ursprünglich sicher als Werkzeug und Waffe, seit der frühen Bronzezeit, ab 2000 v. Chr.,
aber vorwiegend als Kultzeichen, vor allem der „großen Muttergottheit“, als Symbol der
göttlichen Macht, vor allem der weiblichen Gottheit, weil die Form der Doppelaxt an stilisierte
Vulva-Bilder erinnert.

Jürgen Schwalm


Jürgen Schwalm

 
Minos

Alle heiligen Labyrinthe
durchzieht der gleiche rote Faden
alle fernen Sagen
sind nahe Geständnisse
und der Stier der Leidenschaften
brüllt überall und immer
Jeder Traum verrät die Tat


(aus dem Zyklus: Griechische Zeilen)

 

 

 

 

 

Freitag, 13. Oktober 2023

Sekundensilben

Jürgen Schwalm: Der Gedankenflug, Collage, 2003

 

Ein Leser der Formulierung von den „Grabkammern unter plappernden Sphinxen“ in der letzten Eintragung auf meinem Blog fragte mich nach der Herkunft des Zitats. Deshalb sei hier nachgetragen, dass es nicht von Goethe stammt, wie der Leser vermutete, sondern aus meinem Gedicht Sekundensilben: 

 

Jürgen Schwalm

 

Sekundensilben

 

Abgelegte Worte

will ich gar nicht wiederfinden

Verstaubte Orakel

sollen weiterreisen

 Es warten viele Grabkammern

unter plappernden Sphinxen

auf die Mumien der Sentenzen

Mir genügen Sekundensilben

die in der Farbe meiner Träume stieben

Im Funkelglück

 lebt der Augenblick

 

 

 

 

Mittwoch, 4. Oktober 2023

Roter Faden gebunden

 

Allen Freundinnen und Freunden, die mir bei der Überwindung meiner schweren Erkrankung und Operation mit Rat und Tat hilfreich zur Seite standen, möchte ich auch an dieser Stelle herzlich danken. Übrigens bleibe ich  weiterhin meiner Einstellung treu, die da lautet:

 

Ich habe mich immer nur deswegen mit der Vergangenheit beschäftigt, um Wege in die Zukunft zu finden. Es ging mir nie um die Erforschung von "Grabkammern unter plappernden Sphinxen", sondern darum, das Leben begreifen zu können, wenn ich letztlich auch immer an dieser Aufgabe scheiterte. Es ging mir nie um den Tod, sondern immer um das Leben. Deshalb wurde ich auch Arzt.

 

 

 

 

Märchenerzählerin. Stahlstich von Heinrich Burkhart Lödel (1798-1861), Holzschneider, Kupferstecher, aus: "Kinder- und Hausmärchen", gesammelt durch die Brüder Grimm. Zweiter Band. Große Ausgabe. Siebente Auflage. Göttingen. Verlag der Dieterichschen Buchhandlung. 1857.  

 

 

Jürgen Schwalm


Roter Faden gebunden


Märchen verlegen die Handlung in eine unbestimmte Vergangenheit. In einer
Sammlung von 90 Märchen aus aller Welt beginnen 40 mit dem Zauberschlüssel, der
alle Paradiesespforten öffnet, nämlich mit ES WAR EINMAL (once upon a time there
was; il ètait une fois).
Es ist aber auch reizvoll, anderen Eingangsformeln zu lauschen, mit denen
Märchenbotschaften eröffnet werden: Es lebte einmal, niemand weiß mehr, wann es
gewesen ist...Vor langen, langen Jahren... Es ist schon lange, sehr lange her...Es
sind nun schon viele Jahre verflossen...Vor langer Zeit...Vor vielen Jahren...Es lebte
einst ...Vor Zeiten...Einst in alten Zeiten...-

Zu dem griechischen Märchen DER BARTLOSE werden wir auf besonders originelle
Art begrüßt und eingeladen: Roter Faden gebunden, um die Spule gewunden, gib ihr
den Stoß, dass sie sich drehe, und das Märchen vor sich gehe, und der Abend schön
vergehe. - Guten Abend von hinten bis vorn, mit allen drinnen und draußen…

Meist bleibt nicht nur die Zeit unbestimmt, sondern auch der Ort: Ein Schloss liegt
südlicher als Süden, nördlicher als Norden…

Zweifel an der Märchenhandlung äußert der Erzähler nur selten, und wenn derart
ketzerische Gedanken überhaupt auftauchen, werden sie sofort wieder
verabschiedet: Es war, es war nicht, aber was gibt es Besseres als Gott, also: es war
einmal...
Es war einmal, vielleicht war es auch nicht, aber meine Großmutter sagte: Es war
einmal...

Was aber unbestimmt ist, bleibt nie gebunden, auch nicht an die Vergangenheit. Da
raunt ein kluges Märchen: Wenn das so war, so war es oft und kommt auch wieder
vor...
Und in einem französischen Märchen heißt es: Es war einmal, es wird eines
Tages sein: und das ist von allen Märchen der Anfang. Es gibt kein Wenn und kein
Vielleicht; der Dreifuß hat unbestreitbar drei Füße...

Da wird uns als Gewissheit versprochen, dass sich Märchenwunder jederzeit wieder
ereignen können. Wer an Märchen glaubt, verliert nie die Hoffnung.
Märchen sollen vorgelesen, besser noch: nacherzählt und gehört werden. Es geht
um das Sprechen und nicht um das Selber-Lesen:
„Uns ist in alten maeren / wunders viel geseit (gesagt) / von heleden lorebaeren /
von grōzer arebeit / von freuden, hōchgeziten / von weinen und von klagen / von
kuener recken strĩten / muget ir nu wunder hoeren sagen“, beginnt das
Nibelungenlied. Es soll wie das überlieferte Märchen raunen, klingen und singen,
also Musik werden. Es geht um die Verzauberung durch die Interpretation:
Großmutter erzählt Märchen in der Abendstunde vorm Schlafengehen und die Kinder
lauschen.

Wer Märchen beschwört, muss magische Mittel einsetzen. Mit Formulierungen, die
den Intellekt wach kitzeln, sind derartige Wirkungen nicht zu erreichen. Deshalb
bedient sich das Volksmärchen einfacher Versatzstücke, schlichter Kulissen, die
immer wieder, wenn auch unterschiedlich kombiniert, verwendet werden können.
Magische Effekte erzielen die Wortwiederholungen, die in Formeln auslaufen, zu
Paternoster- Singsang und prosa-lyrischen Passagen, die in Reimereien verrinnen,
oft nur in kindlich plapperndem Wortsalat nach Art der Abzählsprüche, selten in
simplen Schlussfolgerungen oder Vergleichen vorzugsweise aus ländlich –
bäuerlichem Bereich, wie: Freude hier – Leid dort - Mehl hier - Kleie dort. 

Auch mit Zahlenzauber wird behext. Häufig ist es die Drei, diese christliche und
weltliche Trinität: Es waren einmal drei Brüder, drei Schwestern; drei Fragen müssen
beantwortet, drei Prüfungen bestanden werden. Oft ist es auch die Sieben: Sieben
Berge, sieben Zwerge.

Das Volksmärchen zeigt Konstellationen in Holzschnitt-Technik, es kennt nur Gut
und Böse, weiß noch nichts von psychologischen Motivationen. Ihm liegt nichts
daran, Hintergründe zu analysieren. Mit dem Intellekt kann animalischer Trost nicht
gewährt werden. Es geht im Märchen aber immer darum, dass das Gute am Schluss
siegt. Der Märchenschluss hat stets Neuanfang zu sein für eine bessere Existenz, im
Märchen Glück genannt.


(aus: Jürgen Schwalm: Wort und Bild und Kunst und Leben, Einfälle zu Vorfällen,
Seemann Publishing, 2021)