Montag, 15. Juni 2015

Jürgen Schwalm: Rückblenden


Jürgen Schwalm

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Erinnerungen 1. Teil

Frühe Jahre
2. Auflage
2015



Jürgen Schwalm 1938, Ölbild von Theodor Schwalm


…Fromm war man im Waldviertel, streng, streng katholisch, und wichtig waren die Prozessionen, dafür lief man weit durch die Felder.
Die Priester in schimmernden Gewändern unter dem Baldachin segneten das Land. Gebetsgemurmel und Vogelgesang. Weihrauch-schwaden stiegen empor.
Und immer wieder wurde an den Wegebiegungen angehalten, an den vielen kleinen Kreuzwegstationen, Andachtsstätten und an einem Brückenhäuschen mit dem heiligen Nepomuk. Hier stand ein Kruzifix, auf dem der Leib Christi mit schwärzlichem Ölfarbenblut naturalistisch beträufelt war, dort verbargen sich in überdachten Nischen und Kapellen Heilige, die verzückt himmelwärts blickten, das Kreuz ans Herz pressend, und gipserne blau gestrichene Madonnen lächelten, als hätten sie süßes Naschwerk zu verteilen.
Das war eine bunte Bilderflut, von der eine verlockende Anziehungskraft ausging und der Wunsch, in ihre geheimnisvollen Abgründe abzutauchen…




Jürgen Schwalm

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Erinnerungen 2. Teil

Aufschlüsse und Verwerfungen
2. Auflage
2015


Jürgen Schwalm 1982
(Studium in Freiburg)…Vorzüglich waren auch die Vorlesungen in der Anatomie bei Professor Ludwig Keller, der übrigens in jedem Semester ein auch von Gasthörern frequentiertes Kolleg „Anatomie für Künstler“ hielt, das er durch Projektion sorgfältig ausgewählter Bildbeispiele sehr lebendig gestaltete.
Gleich in der ersten Vorlesung fragte er: „Wer von Ihnen kann nähen?“
Einige Studentinnen meldeten sich zögerlich, weil sie nicht wussten, worauf die Frage hinauslief. Von den Studenten war ich der einzige, der den Finger hob. Dass jetzt schon einige meiner Kommilitonen kicherten, war die Folge der damaligen Rollenverteilung: Männer durften kein Interesse an „weiblichen“ Handarbeiten haben oder äußern.
Keller fragte weiter: „Wer kann stricken?“ Ich meldete mich abermals.
Und nochmals fragte Keller: „Wer kann häkeln?“ Wieder hob ich als einziger Mann die Hand. Das Gekicher im Auditorium war inzwischen zu lautem Gelächter angeschwollen…
Da sagte Keller: „Dann sind Sie ja wohl der einzige Mann, den ich im Präparierkurs gebrauchen kann.“
Da machten meine Kommilitonen schiefe Gesichter, und ich pries meine Schwestern, die mich schon in frühster Jugend in die Propädeutik der Handarbeiten eingewiesen hatten…