Freitag, 29. Dezember 2023

Die Geschichte vom Einhorn (Fortsetzung)

Eva Schwieger-von Alten:

Exlibris für Jürgen Schwalm, 1980


 

Jürgen Schwalm: "Das Einhorn

und das Keinhorn", Collage, 2014
 
 
 
Jürgen Schwalm
 
Die Geschichte vom Einhorn


(Fortsetzung)

mit besten Grüßen zum Jahreswechsel

 
Das Einhorn lebte schon in der Antike. An der Grenze zur Neuzeit zog sich das Tier zurück. Künstlern begegnet es manchmal noch in ihren Träumen, wie es meiner Freundin, der Malerin Eva, geschah. Sie zeichnete, was sie sah: Ein schneeweißes Wesen mit einem Pferdekopf und gelockter Silbermähne. Aber das Tier huschte so schnell vorbei, dass sie nur einige zarte Umrisslinien aufzeichnen konnte; vielleicht war es doch bloß ein Schimmel gewesen. Aber Eva ergänzte in ihrer Zeichnung die Stirn des Pferdekopfes mit einem gedrehten Narwal-Zahn, den sie in einem verstaubten Apothekenfundus entdeckt hatte; und da sie damit schon im medizinischen Bereich angekommen war, wand sie gleich noch eine Äskulapnatter um den langen spitzen Stirnfortsatz. Derart ausgestattet sprang das Einhorn, auf Exlibris-Blättchen vervielfältigt, in die Buchdeckel meiner ärztlichen und belletristischen Bibliothek, wo es nun mit großen dunklen Augen, in denen Geheimnisse abgrundtief versinken, meine Lektüre bewacht.
Vielleicht liest es in meinen Büchern aber auch den Unfug, mit denen fromme Gelehrte seine wahre Berufung vertuschen wollten. Die zeigte es doch einst ganz unverhüllt und nackt in seinem Attribut, dem Horn. Mit dem konnte das Tier zustoßen und die letzten Schleier zerreißen, um mit aufgestellten Ohren und geblähten Nüstern zu beobachten, wie das Opfer im Lustschrei den kleinen Tod erlitt. Nachher hingen Blutbeeren an seinem Horn, und der Verlust, den das Opfer erlitten hatte, war nicht wieder rückgängig zu machen.
Die eindeutigen Absichten des Einhornes wurden in den Kirchenscharteken kaschiert, als der Weihrauch der Marien-Symbolikaufwölkte.
Es stimmte doch allein, dass der Kopf des Einhorns mit seiner Waffe in den Schoß auch dieser Jungfrau drängte. Alles andere wurde verbrämte Anekdote, zweckbestimmt umgedeutet, wobei Christus schließlich wieder aus dem Spiel genommen wurde. Die Erotik des Einhorns musste von der christlichen Kirche aus der Welt geschafft werden. Schließlich durfte das von Maria gezähmte Tier der Himmelkönigin nur noch wie ein Schoßhund die Pfote reichen. Ein derart bekehrtes, entschärftes, harmloses Einhorn durfte das Volk behalten, die dem Tier zuvor so gerne auflauern wollten in finsteren Wäldern und dunklen Verstecken. Aber da sie es nie hatten finden und erlegen können, war die Jagd schließlich nicht mehr lustig und man gab sie ganz auf. Es ging ja auch nicht mehr um das stolze und wilde Einhorn von einst.
Die Kraft seines Attributes übernahmen fortan andere Geschöpfe, die sich viel skandalöser austobten. Das Einhorn zog sich leider nicht in die nach ihm benannte Höhle in Herzberg am Harz zurück, wo verträumte Touristen noch immer vergeblich nach seinen Relikten suchen. Es verkroch sich schließlich für immer in harmlose Kindermärchen und in die Stopfwolle von Plüschtieren.

(aus: Jürgen Schwalm: Wort und Bild und Kunst und Leben, Seemann-Verlag 2021) 
 
 
 
 

Freitag, 22. Dezember 2023

Die Fabel vom Einhorn

Gebetbuch Jakobs IV von Schottland und seiner Gemahlin Margaret Tudor / Wappen König Jakobs IV von Schottland. Foto aus Hans Schöpf "Fabeltiere", Akademische Druck- u. Verlagsanstalt Graz / Austria 1988. - Das Wappen Jakobs IV wird von zwei Einhörnern getragen, deren Hörner Narwal-Zähnen nachgebildet sind.

"Geschenkdose mit dem Einhorn" aus Limoges-Porzellan, hergestellt für den Valentinstag (14. Februar) 1983 von der Sammlerartikel-Firma Franklin Mint, Exton / Pennsylvania.- Sammlung: Jürgen Schwalm

 

Statt eines

Weihnachtsmärchens

der Bericht von einem Tier, das es nie gab:

Die Fabel vom Einhorn

Mit meiner Freundin, der Malerin und Grafikerin Eva Schwieger-von Alten habe ich mich viel über die Bedeutung des Einhorns in (christlichen) Legenden und Erzählungen unterhalten; und vor vierzig Jahren hat sie für mich Exlibris gestaltet, auf denen der Kopf eines pferdeähnlichen Einhorns zu sehen ist, um dessen -einem Narwal-Zahn nachempfundenen – Horn sich eine Äskulapschlange windet.

In seinem „Kreuterbuch“ von 1679, in dem auch die „fürnehmsten vierfüßigen Thiere der Erden“ abgehandelt wurden, gibt Adamus Lonicerus eine ausführliche Beschreibung des Einhorns, die wir hier auszugsweise wiedergeben:

…“Hat den Namen von dem einsamen einzigen Horn/so an seiner Stirn wächst. Ist einöd wild Thier/in den wüsten wilden Wäldern in India  /mit der Gestalt des Leibs einem Pferd gleich/am Kopff gestalt wie ein Hirtz (Hirsch)/am Halß hat es eine lange gelbe Haar/wie ein Roßkam/Füß wie ein Elephant/sein Schwantz ist wie an einem wilden Schwein/mitten aus der Stirn wächst ihm ein starck Horn/ ganz spitzig zwo Elen lang/hat eine brüllende Stimm/die Haar seines Leibes seynt gelb. Dieses Thier wird nicht lebendig gefangen/sondern wenn es mit dem Löwen streitet/so stellet der Löw sich wieder einen Baum/als dann laufft das Einhorn mit vollem Lauff zum Löwen zu /und vermeinet ihn mit dem Horn umzubringen/so weicht ihm der Löwe/und bleibt das Einhorn mit seinem Horn in dem Baum stecken/und wird also von dem Löwen umgebracht…Es trägt sonderliche Lieb und Wolgefallen zu den Jungfrauen und Weibspersonen/daß es sich zu ihnen gesellt/wo es sie siehet/und Zahm bey ihnen gehet/ruhet und entschläfft./Sein Horn wird zur Arzney hoch gepreiset/Dieses Horn wird sehr verfälscht mit andern gebrandtem Horn und Beinen/Ist ein köstlich Arzney wider alles Gifft/und auch wider gifftige Biß der wütende Hund. Item wider die schwerfallende Kranckheit./

Obwohl das Einhorn Plinius, Aelianus, Aristoteles, Ludovicus, Romanus, Paulus und Nicolaus von Venedig/und viel andere mehr beschrieben/stimmen doch ihrer wenig dergestalt überein/derowegen von Herr D. Ulysse Aldrovando in seinem Buch/von den vierfüßigen Thieren mit ungespaltenen Klauen…nicht unbillich gezweifelt wird/ob jemals ein Einhorn in der Welt gewesen sey/und ob wol hie und dort/dergleichen Hörner aufenthalten und gezeiget werden/so will doch solches alles dem Aldrovando, als welchem ich hierinnen beyfalle/seinen Zweifel nicht benemen/dieweil nemlich solcher Hörner keins dem andern weder an Gestalt/noch auch der Größe im geringsten gleich/und wird unter allen die davon geschrieben/schwerlich ein einziger gefunden/der solches Thier selbst gesehen/oder da er es schon  vorgibt/mit den anderen übereinstimme.“

Über die symbolische Bedeutung des Einhorns schreibt Hans Schöpf in seinem Buch „Fabeltiere“:

„Neben den bekanntesten und beliebtesten symbolischen Tieren wie zum Beispiel Phönix, Adler, Pelikan und Löwe nimmt das Einhorn eine wichtige, man kann fast behaupten, vorrangige Stellung ein…

Besondere Bedeutung kommt dem Einhorn in der christlichen Symbolik und Mystik  zu. Im guten Sinne bedeutet es das Kreuz Christi, wie Justinus und Tertullian immer wieder betonen. Die meisten Kirchenväter aber bringen das Einhorn in Zusammenhang mit Christus selbst, wobei das Horn stets Ausgangs- und Anknüpfungspunkt ihrer Deutung bildet. .. Der Hinweis mag genügen, dass das eine Horn bald die Macht Christi, bald seine Unbesiegbarkeit, bald die Tatsache, dass er der eingeborene Sohn Gottes ist, symbolisiert. Wichtig ist hingegen die Darstellung und Interpretation des Tieres im Physiologus: Das Einhorn kann wegen seiner Kraft und Unbezähmbarkeit vom Jäger nicht gefangen werden, sondern lässt sich nur durch eine reine Jungfrau, der es sich zutraulich nähert, zähmen. Dieses Tier symbolisiert Christus, den Unbesiegbaren, der in den Schoß der reinen Jungfrau kam…Außer für Christus war das Einhorn auch noch positives Sinnbild für die Patriarchen, Propheten, Apostel und schließlich die Gläubigen, weil sie ihre Stärke von dem Gott haben und an diesen einen Gott glauben…Als Sinnbild der Reinheit, Keuschheit und Jungfräulichkeit wurde das Einhorn auch zu einem Mariensymbol. So begegnen uns in der christlichen Kunst immer wieder Mariendarstellungen mit dem Einhorn im Schoß, die auf die unbefleckte Empfängnis des Gottessohnes durch Maria hindeuten…Das Einhorn, das bei vielen Völkern bekannt ist, wird dort auch als Symbol der Kraft und Stärke gedeutet. Sein Horn ist auch ein phallisches Symbol, weil es jedoch der Stirn, dem „Sitz“ des Geistes entspringt, ist es zugleich auch ein Symbol  der Sublimation sexueller Kräfte…Einerseits war das Einhorn ein mythisches Tier, dem man natürlich alle möglichen Verhaltensweisen und Eigenschaften beiliegen konnte, andererseits forderte das einzelne Horn zum Suchen von Analogien anderer „Einzigartigkeit“ heraus, wobei es keine Grenzen gab. Dennoch wirkte die Fabel des Physiologus am meisten nach und zwar besonders im profanen Bericht des Spätmittelalters, wie eine Vielzahl von Minneallegorien im Gewande der Einhornsymbolik beweist.“

Ein schönes Bild der Einhornjagd, in der die gesamte christliche Symbolik dargestellt wird, ist im Lübecker Dom zu sehen. Der Bildschnitzer des mittelalterlichen Altaraufsatzes von 1506 ist unbekannt. Die gleichnishafte Szene ist eine Umsetzung der biblischen Verkündigungsszene nach Lukas. Der dargestellte Jäger soll der Engel Gabriel sein, der ein Einhorn in den Schoß Mariens treibt und damit die Rolle Mariens an der Menschenwerdung Christi anzeigt.   

(wird fortgesetzt)                                                                                   Jürgen Schwalm 

 

 

 

 

          

 

Freitag, 15. Dezember 2023

Wilhelm Meisters Wanderjahre

Jürgen Schwalm: "Der durch seinen Erfolg verwöhnte Dichter", Hinterglastechnik


Zitate aus
Johann Wolfgang von Goethe
Wilhelm Meisters Wanderjahre

Bei der Lektüre von "Wilhelm Meisters Wanderjahren" entdeckte ich zwei Zitate, in denen ich  - wie immer in solchen Situationen etwas erschrocken - eigene Charakterzüge sehr exakt wiedergegeben fand, nämlich:

1.     
Der Mensch hat eine eigene Lust, Proselyten (=Neubekehrte) zu machen, Dasjenige, was er an sich schätzt, auch außer sich, in Anderen, zur Erscheinung zu bringen, sie genießen zu lassen, was er selbst genießt, und sich in ihnen wiederzufinden und darzustellen. Fürwahr, wenn dies auch Egoismus ist, so ist er der liebenswürdigste und lobenswürdigste, derjenige, der uns zu Menschen gemacht hat und uns als Menschen erhält.

2.
Wie aber den Frauen der Augenblick, wo ihre bisher unbestrittene Schönheit zweifelhaft werden will, höchst peinlich ist, so wird den Männern in gewissen Jahren, obgleich noch in völligem Vigor (=Lebens-Kraft), das leiseste Gefühl einer unzulänglichen Kraft äußerst unangenehm, ja gewissermaßen ängstlich.
 
Jürgen Schwalm

                                                                                                               
 
 
 
 
 
 

Freitag, 8. Dezember 2023

Hinterglasbild

St. Georg, Hinterglasbild von Franz Geier (Frauenau / Bayerischer Wald).- Gekauft in Bodenmais /Bayerischer Wald, Juli 1970.- Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm.- St. Georg (= St. Jürgen) gehört wie die in meinem Gedicht "Hinterglasbild" erwähnten Heiligen Barbara, Katharina und Margareta zu den 14 Nothelfern der katholischen Kirche ( es folgt hier die Gesamtliste der 14 Nothelfer: Achatius, Ägidius, Barbara, Blasius, Christopherus, Cyriakus, Dionysius, Erasmus, Eustachius, Georg, Katharina, Margareta, Pantaleon, Vitus).Die "drei heiligen Madl" Barbara, Katharina und Margareta wurden in meiner Jugend im südlichen Deutschland noch sehr verehrt. Die "Virgines capitales"(= die wichtigen Jungfrauen) und ihre Attribute konnte man sich mit folgendem Merkspruch einprägen: "Margareta (Gretel) mit dem Wurm, Barbara (Bärbel) mit dem Turm, Katharina (Kathi) mit dem Radl, das sind die heiligen drei Madl"

 

Jürgen Schwalm


Hinterglasbild


Die heilige Bärbel
macht ein Gesicht wie Zuckerbrot;
man möchte noch Powidl aufstreichen,
so herzig schmeckt sie zu allen Tagesgebeten.
Zwei weitere fromme Madel,
nämlich Kathi mit dem Radel
und Gretel mit dem Wurm,
bringen der Bärbel Kirschenzweige mit keuschem Seifenduft.
Obacht mit der Tugend,
wegen ihrer Jugend
wartet überall das Verderben.
Drei leichte Stöße
und es zerklirren die Schöße,
fallen Kathi und Gretel und Bärben
in nicht zu kittende Scherben.


(aus: Jürgen Schwalm, Farbwechsel, 1982) 







Freitag, 1. Dezember 2023

Der Heilige Nikolaus

Der Heilige Nikolaus, Silber-Oklad einer russischen Ikone aus der 2. Hälfte des 19. Jh. - Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm

 

 

Am 6. Dezember ist der Festtag des Heiligen Nikolaus von Myra (von Bari). Im Reclam Lexikon der Heiligen und der biblischen Gestalten wird über Nikolaus u. a. berichtet:

Als Bischof von Myra in Lykien (Kleinasien) stirbt er um 350. Ein zerbrochener Sarkophag wird noch heute in der wiederhergestellten Unterkirche von Myra (= heute Demre) von Wallfahrern der östlichen Kirche verehrt. Die 1087 von Piraten (Soldaten u.a. werden genannt) entwendeten Gebeine brachte man nach Bari und errichtete dort eine Grabkirche, in der weitere Verehrung stattfand. Legenden identifizieren ihn mit dem Abt Nikolaus von Sion (starb 564), da auch diesem fürsorgliche Mildtätigkeit nachgerühmt wurde. Über die byzantinische Tradition wird Nikolaus einer der am meisten verehrten Heiligen Russlands. Nördlich der Alpen setzt seine Verehrung mit bestimmenden Legendenbildern um 1000 ein…Die bekannteste und am meisten dargestellte Legende gibt ihm als einzelner Gestalt das Attribut von drei Goldkugeln; diese hat er drei armen oft schlafend im Bett liegenden Mädchen zugeworfen, die ihr Vater in ein Freudenhaus verkaufen wollte… Die besonders in der östlichen Kunst verbreitete Legende von der Errettung von drei Pilgern aus Seenot findet sich auch in der abendländischen Kunst, macht Nikolaus zum Patron der Schiffer und gibt ihm gelegentlich auch einen Anker als Attribut…

Eine Variante der Legende, wie Nikolaus den Sturm besänftigt, wird von Jacobus de Voragine in der Legenda aurea wie folgt erzählt:

Eines Tages befanden sich einige Seeleute in großer Not und beteten unter Tränen mit folgenden Worten: „Nikolaus, du Diener Gottes, wenn es wahr ist, was wir von Dir gehört haben, so wollen wir es jetzt selbst erfahren.“ Daraufhin erschien ihnen ein Mann, der so aussah wie Nikolaus, und sprach: „Seht her, ich bin da. Denn ihr habt mich gerufen.“ Und er fing an, ihnen bei der Arbeit an den Rahen und Tauen und der übrigen Ausrüstung des Schiffes zu helfen, und sofort ließ der Sturm nach. Als sie aber in seine Kirche gekommen waren, erkannten sie ihn, den sie niemals vorher gesehen hatten, ohne dass er ihnen von jemandem gezeigt wurde. Darauf dankten sie Gott und ihm selbst für ihre Rettung. Er aber lehrte sie, dies der Barmherzigkeit Gottes und ihrem Glauben, nicht seinem Eingreifen zuzuschreiben.

Sotten Sie, lieber Leser, es - wie ich - vorziehen, den lateinischen Urtext der Erzählung in der Legenda aurea zu studieren, bitte sehr, hier ist er:

Quadam autem die dum quidam nautae periclitarentur, ita cum lacrimis oraverunt: “Nicolae, famulae Dei, si vera sunt, quae de te audimus, nunc ea experiamur.“ Mox quidam in eius similitudinem apparuit dicens: „Ecce assum. Vocastis enim me.“ Et coepit eos in antennis et rudentibus aliisque iuvare navis armamentis, statimque cessavit tempestas. Cum autem ad eius ecclesiam venissent, quem numquam  ante viderant, sine indice cognoverunt. Tunc Deo  et sibi de liberatione gratias egerunt. Quod ille divinae misericordiae  et eorum fidei, non suis meritis attribuere docuit.