Freitag, 24. September 2021

Brot und Zirkusspiele


Jürgen Schwalm: „Play-Station“, Foto, 2021
 

Brot und Zirkusspiele

Der Ausdruck „Panem et circenses“ = „Brot und Zirkusspiele“ stammt von dem römischen Dichter Juvenal ( ca. 60 – ca. 127 n. Chr.). Das römische Volk kümmerte sich in der Kaiserzeit nicht mehr um die Politik, die Staatsinteressen und das Gemeinwohl. Es ließ sich immer wieder durch Brot und Zirkusspiele bestechen und bei den Magistratswahlen zur entsprechenden Stimmabgabe verleiten.

In Georg Büchmann „Geflügelte Worte“ (dtv 1967) wird dazu folgendes ausgeführt: Nach Friedländer wurde ähnliches schon früher von der Bevölkerung Alexandriens gesagt. Auf Rom wendet den Ausspruch  zuerst Kaiser Trajan (96-117 n. Chr.) an, der nach M. Cornelius Fronto (geb. um 100, gest. um 170 n. Chr.) sagte: „Populum Romanum duabus praecipue rebus, annona et spectaculis, teneri“ = Das römische Volk kann in der Hauptsache nur durch zwei Dinge in Zaum gehalten werden: dass man ihm genügend zu essen gibt und ihm spektakulöse Schauspiele bietet.

Im weitesten und übertragenem Sinne hat diese Aussage bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren. Und: Es wird immer derjenige Sieger, der die Menschen durch Versprechen, die nach der Wahl nicht eingehalten werden, am überzeugendsten täuschen kann.

Jürgen Schwalm

 

 

 


Freitag, 17. September 2021

Wort und Bild und Kunst und Leben

Jürgen Schwalm: „Das Wort-Zeichen“, Hinterglasmalerei, 2016

 

Jürgen Schwalm: Wort und Bild und Kunst und Leben. Seemann Publishing 2021.

342 Seiten, 17,55 €. - Bezug u.a. über Amazon: https://amzn.to/3oGOudT

Bilanz ziehen. Das ist es, was den Lübecker Schriftsteller Jürgen Schwalm (89) derzeit umtreibt. Vor wenigen Monaten hat er in dem Band „Arm in Arm und Wort für Wort“ eine Auswahl seiner Gedichte aus sechs Jahrzehnten veröffentlicht, jetzt legt er nach. In der soeben erschienenen Publikation „Wort und Bild und Kunst und Leben“ bietet er einen Querschnitt seiner Prosa aus ebenfalls sechzig Jahren.

Der Titel des Buches enthält bereits dessen Quintessenz. Denn genau im magischen Viereck von Wort, Bild, Kunst und Leben bewegt sich das literarische und künstlerische Schaffen Schwalms, der sich neben dem bürgerlichen Beruf des Arztes eine zweite, ganz andere Existenz aufgebaut hat. Nämlich die eines kreativ Gestaltenden mit so erstaunlich vielfältigen Kenntnissen und Erkenntnissen, dass man ihn in Frankreich als Homme de lettre bezeichnen würde. Als einen Dichter und Denker also mit sehr weitem Horizont.

Wie facettenreich Schwalms Interessen und Intuitionen sind, ist in dem neuen Band eindrucksvoll dokumentiert. Die Themen reichen von ironisch kommentierten Grabinschriften bis zu individuell gezeichneten Porträts von Künstlern wie Max Beckmann oder Jean Cocteau, von der spannend aufgeblätterten Familiengeschichte bis zum gnadenlos vernichtenden Essay über den Kitsch. Kernstück ist jedoch ein umfangreicher Aufsatz, dessen Titel dann aufs ganze Buch übertragen wurde. Hier entwickelt Schwalm in 29 Thesen seine Philosophie vom symbiotischen Zusammenspiel von Literatur, bildender Kunst und Musik – tiefgründig und trotzdem ohne akademische Verrenkungen.

Wunderbar bissig hingegen die kurzen Aus- und Überfälle, die weder prominente Zeitgenossen (Fritz J. Raddatz) schonen noch bestimmte Politiker („Sie behaupten, die Stützen der Gesellschaft zu sein und laufen selber an Krücken“). Trotz solch kecker Angriffslust grundiert etwas anderes die Prosa: eine subtile Nachdenklichkeit. Pontius Pilatus' Frage „Was ist Wahrheit?“, die Schwalm gleich am Anfang zitiert, ist das zentrale Motiv seiner geistigen Haltung. Die ist geprägt durch eine Kultur des Zweifelns, die sich, zugespitzt bisweilen zu einem entschiedenen Nein-Sagen, wie ein roter Faden durch jene Texte zieht, die Gewicht haben.

Dennoch ist Schwalm nicht der Geist, der stets verneint. Immer wieder leuchtet es auf, das Grundvertrauen, das er dem Leben gegenüber hat. Manchmal schweben durch seine Texte Engel, die uns halten, und in Märchen und Träumen tun sich dem Autor Gegenwelten auf zur phantasielosen, nicht zuletzt deshalb hässlichen Wirklichkeit. Dann wird die Prosa oft zur Lyrik, zu jener literarischen Gattung, die Schwalms ureigene Stärke darstellt.     

 Hermann Hofer

 

 

 

 

Freitag, 10. September 2021

Die Zementtransformierung

Jürgen Schwalm: „Das Verlies“, Collage, 2017

 

Jürgen Schwalm 

Die Zementtransformierung 

Im interplanetaren jahr der kernspaltungen stießen die eltern des krüppelkindes nur noch rote schreie aus / sie erstickten schließlich am blutsturz der worte / da wurden sie nach dem erlass der obersten behörde in den weltraum katapultiert / so wurden alle eliminiert die radioaktiv verseucht waren / aber das war der einzige kompromiss wenigstens nach dem tode noch zur freiheit zu kommen / und wenn auch in der grenzenlosen leere

die parole die am tage ihres todes von der obersten behörde ausgegeben wurde lautete: lies alle verordnungen bis zum ende damit du die wahrheit findest

nun igelte sich das krüppelkind allein ein in seiner zelle im bunkerbau / es hielt nur noch künstliche beleuchtung aus / aber die nannte man längst natürlich /die sonne kam sowieso nicht mehr durch / auch draußen nicht / das krüppelkind hatte das lachen verlernt und das weinen war ihm abhanden gekommen / es befriedigte sich selbst indem es mit formeln spielte / und wackelte rhythmisch im takt der logarithmen / es lutschte gern jeden zwang bis zur neige aus / alle träume waren ihm verboten aber es vermisste keinen

pflanzen und tiere kannte das krüppelkind nur aus vorzeitmythen / darum ekelte es sich so als am tag zero zero dreizweiacht aus einer mauerfuge im zement der betonwand seiner zelle plötzlich ein blutklumpen hervorquoll der sich zu einer roten rosette formte die aussah wie eine rosenblüte

die gedankenübermittlungszentrale gab ihm durch frau atomaria -kurzform maria – halt und trost auch in dieser lage: kein grund zur panik / denn mit dieser rosette ist keine rosenblüte wiedererstanden durch evolution und mutation lebender substanz / wir haben das leben fest im griff / sprach frau maria zu dem krüppelkind / kapriolen sind dem leben nicht mehr möglich / deshalb wirst du auch nie laufen können / doch freue dich denn siehe / dies ist keine blüte sondern eine zementtransformierung / du darfst / wenn du lieb und gehorsam bist / die wahrscheinlichkeitsrate ihrer entstehung berechnen /  also mutter maria

da wurde das krüppelkind sehr zufrieden und wackelte sich in seiner betonzelle im takt der logarithmen in seine aufgabe

die parole der obersten behörde für den tag zero zero dreizweiacht aber lautete: lies alle verordnungen bis zum ende denn die wahrheit übertrifft alle vorstellungen

*

Dieser Kurzprosatext erschien erstmals 1978 in der von der Literarischen Union e.V. herausgegebenen Kurzprosa-Anthologie MAUERN und
und erregte damals heftige Diskussionen. 

Und heute?

 

 

 

Samstag, 4. September 2021

Die Lust zu schreiben


Aus der medizinhistorischen Sammlung von Jürgen Schwalm

Rechts oben: Votivbild des Archinos an Amphiaraos (Inschrift). Links behandelt der Heilgott Amphiaraos den Patienten Archinos, rechts liegt der kranke Archinos auf einer Kline, seine verletzte Schulter wird von einer Schlange zu Heilzwecken geleckt, rechts steht der gesundete Archinos betend vor einer Weihetafel. Attisch, 1. Hälfte des 4. Jh. V. Chr., Marmor, Höhe 49 cm, Breite 54,5 cm, Fundort: Amphiaraion in Oropos, Athen, Nationalmuseum, In. 3369. Links oben: Nachbildungen von Arztinstrumenten aus Pompeji und Herculaneum. Originale im National-Museum Neapel. Von links nach rechts: 1. Sonde, 2. Schere, 3. Haken, 4. Spatel zum Auftragen von Salbe, 5. Sonde, 6. Skalpell, 7. Fremdkörperzange, 8. Messer. Links unten: Bronzeleber von Piacenza, 1877 bei Piacenza gefunden, seither im dortigen Museo Civico. Stilisiertes Modell einer Schafsleber aus dem 3. Jh. V. Chr. Der Rand des Modells ist wie das Himmelsgewölbe in 16 Regionen mit den Namen der etruskischen Götter aufgeteilt, die den griechisch-römischen Göttern entsprachen. Die Leber diente als „Anschauungsmaterial“ bei der Leber- und Eingeweideschau der Etrusker; die Lehre stand in den Libri haruspicini (nach Cicero ein Teil des Regelwerks der Etrusker). Rechts unten: Replik eines römischen Salbgefäßes.

 

Jürgen Schwalm

die lust zu schreiben
der zwang zu schreiben
der versuch mich selbst zu heilen
könnte immerhin erkenntnisse bringen
die dazu beitragen
auch für dich eine therapie zu finden

oft erlauben übersichtliche verhältnisse
einfache chirurgische maßnahmen
den kreuzschnitt um den karbunkel zu entleeren
oder die gewebedurchtrennung mit skalpell und schere
um einen tumor freizulegen und auszuschälen
oder die elektokoagulation eines herdes

aber zwischen dir und mir wären nervennähte nötig
denn die verbindungen zwischen uns
werden immer wieder unterbrochen
ermittelte daten bleiben chiffren ohne code

doch ich gebe die hoffnung nicht auf
dir zu helfen indem ich mir helfe
und wenn auch nur durch anreiz zum befreienden gelächter

in der lust zu schreiben
und im zwang zu schreiben
schlag ich immer wieder salto hoch am trapez
verlass mich darauf dass das netz der worte hält
falls ich abstürzen sollte
dass die worte ihr wort halten
wenn sie ausgestoßen werden
mit der letzten presswehe zum ersten schrei in die welt

nun haben sie ihre schicksale
und vielleicht auch nur ein kurzes leben
doch selbst ein einzges wort kann die entscheidung sein


(Vorwort zu: Schein und Wirklichkeit, Kurzgeschichten deutscher Ärzte
gesammelt von Armin Jüngling, Verlag Th. Breit, Marquartstein, 1
977)