(Foto: Gisela Heese) |
Palmarum 1942 wurde bei dem verheerenden Luftangriff auf Lübeck die Marienkirche zerstört. Im September 1948 prägte die Hamburger Münze aus dem Metall geborstener Glocken der Lübecker Marienkirche insgesamt 4250 Gedenkplaketten zum Herstellungspreis
von 10.- Mark, die zugunsten des Wiederaufbaus und des Erhalts der Marienkirche im Inland für 50.- Mark angeboten wurden; aus den USA war der Vorschlag gekommen, sie für 50
Dollar / Stück zu verkaufen.
Alfred Kerr
wurde ich kürzlich erinnert, als ich wegen des Verdachtes, einen Schlaganfall erlitten zu haben, in eine Klinik eingewiesen wurde.
Alfred Kerr, 1867 in Breslau geboren, hieß eigentlich Alfred Kempner, war aber- entgegen einigen Vermutungen der damaligen Zeit- nicht der Neffe der als „Schlesischer Schwan“ belächelten Dichterin Friederike Kempner.
Der Sohn reicher jüdischer Eltern studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Berlin und promovierte 1894 in Halle zum Dr. phil. mit einer Dissertation über Clemens Brentano.
Kerr war in Berlin einer der einflussreichsten deutschen Kritiker in der Zeit vom Naturalismus bis 1933. Er schrieb für den „Tag“, das „Berliner Tageblatt“ und die „Frankfurter Zeitung“ und war vor dem 1. Weltkrieg Mitherausgeber und auch Herausgeber der Kunst- und Literatur-Zeitschrift „Pan“.
Kerr floh 1933 nach Prag, dann nach Zürich und Paris und 1935 nach London. 1947 wurde er britischer Staatsbürger. Ab 1945 arbeitete er für die deutschen Tageszeitungen „Die Welt“ und „Die Neue Zeitung“ und lebte schließlich in Hamburg. 1948 erlitt Kerr während einer Hamburger Theateraufführung einen Apoplex und wählte daraufhin den Freitod durch eine Überdosis Schlaftabletten. Begraben wurde er auf dem Ohlsdorfer Friedhof.
Kerr verfasste seine Kritiken in einem eigenen Stil und sehr eigenwilliger Schreibweise; sie wurden auch als „literarische Stenogramme“ bezeichnet. Er sah in der Kritik eine eigene Kunstform und bevorzugte dabei eine treffende, geistreich-ironische und oft absichtlich saloppe Schreibart. Er war parteiisch, hatte aber einen unfehlbaren Instinkt für das Gute und Gelungene und scheute sich nicht, das Schlechte und Misslungene vernichtend abzustrafen.
Typische Beispiele. Über eine Opernsängerin urteilte er: „Es soll auch Fräulein X. gesungen haben. Gehört habe ich sie nicht.“ Ein Erstlingswerk rezensierte er mit einem Satz: „Wacker, wacker, kleiner Kacker“.
Jürgen Schwalm
Annette Kolb, Fotografie um 1950; Bildsammlung Schwalm |
Jürgen Schwalm
1913 veröffentlichte die Schriftstellerin Annette Kolb (1870-1967) im Fischer-Verlag ihren ersten Roman „Das Exemplar“. Wie in allen Romanen Annette Kolbs sind auch in diesem autobiografische Motive verarbeitet. „Das Exemplar“ ist nämlich John Ford, Legationssekretär der englischen Botschaft, mit dem Annette Kolb in München und Paris häufig zusammengetroffen war und mit dem sie bis zu seinem Tod im Jahre 1917 korrespondierte. Über ihre Freundschaft mit John Ford schrieb sie:
Zwischen uns herrschte ein weißer Zauber. Ja, wir schritten als eine unauflösliche Einheit voran, unsichtbare Vereinigung im Takt der Gesetze der Musik. Für mich war dieser Gleichklang Entspannung und Erholung, ein Vergessen meiner selbst, des ganz besonderen Problems meiner Existenz, des eifersüchtig gehüteten Geheimnisses ihres Ziels, ihres einsamen, im Verborgenen wachsenden Ernstes, ihres unglücklichen Strebens.
(siehe: Jürgen Schwalm: „Ich musste es auf meine Weise sagen“ – Annette Kolb – Leben und Werk, 2006)
Jürgen Schwalm
Der weiße Zauber
Annette Kolb und John Ford
München im Sturm und Faschingstrubel.
In dieser Gesellschaft hält beide nichts.
Sie ruft ihm zu. „Ich gehe“.
Da sagt er rasch: „Ich folge nach“.
Das ist die Melodie,
die zwischen ihnen ihren Bogen spannt,
sie aus allen Unzulänglichkeiten aufwärts zieht
in die klare Freiheit der Berge:
Der weiße Zauber ihrer Gipfel
ist mit dem Silberstift
in die Bläue des Himmels gezeichnet.
Es bleibt beim Gruß dorthin.
Denn nach dem steilen Aufwärtsschwung
schaukelt der Tag sie ins Tal.
Dort wartet in die Alm gebettet
altersgebeizt und geduldig
hinter wandgestapelten Holzscheiten
das Haus,
das nach den beiden Ausschau hält.
Dort kehren sie ein
im Gleichklang der Schritte
Schulter an Schulter
und stolz und gemeinsam einsam,
wo der Abend ihnen
ein vergängliches Wunder gewährt.
Denn draußen erblühen trotz Eis und Frost
aus dem braunem Gebälk des Hauses
plötzlich dunkelrot die Geranien,
Blutflora leuchtet im Schnee:
Das Winterwunder eines Augenblicks.
Für einen Wimpernschlag das grenzenlose Staunen.
Kläre Goldbach: Adam und Eva im Paradies, Holzschnitt, undatiert; Geschenk von Eva Schwieger-von Alten für Jürgen Schwalm |
Jürgen Schwalm
Die Schlange im Paradies
Die Schlange im Paradies lockt immer wieder mit süßer Frucht, deren Genuss sündhafte Wonnen verspricht. Doch sitzt der Wurm im Apfel. Der Biss in solches Obst hat Konsequenzen. Deshalb lernt jede kluge Eva schnell, Adam ihre eigenen Äpfel anzubieten. Sie kommen ihrem Adam freilich meist nicht so verführerisch vor wie die paradiesischen Früchte. Deshalb zerteilt Eva ihre Äpfel häppchenweise und streut noch tüchtig Zucker darüber. Damit füttert sie ihren Adam zur Mitternacht.
Und siehe da: Adam wird mit dieser Speise sehr zufrieden sein, seineEva loben und die Schlange im Paradies – wenigstens während des Essens – vergessen.
(aus: Wort und Bild und Kunst und Leben)
Jürgen Schwalm: "Die glückliche Entbindung", Collage, 2014 |
Jürgen Schwalm
Der zu nackte Akt
Es ist vertrackt,
dass mancher Akt,
gerade dann, wenn mit Takt
und in keinem Detail abgeschmackt
jeder Fakt
exakt
auf die Leinwand gebackt
wurde,
uns nicht packt.
Der Grund ist schnell ausgeschnackt:
Der abgebildete Akt
Ist uns einfach zu nackt.
Heinrich Schwieger-Uelzen: Schulhof, Öl, 1930. Abbildung in: Jürgen Schwalm, Heinrich Schwieger-Uelzen, Eva Schwieger-von Alten: "Schwingen", 1984 |
Jürgen Schwalm
LES ENFANTS DU PARADIS VI-X
VI
Welche Kinderei
dein Bild abzuschlecken
wie eine Katze.
In allen Fotoalben stellte ich dir nach,
schnitt ich dich aus,
hing dich in meinem Kleiderschrank auf
neben den Konfirmationsanzug
und der ersten Sonntags-Krawatte.
VII
In der letzten Schulstunde
hatte ich deinen Namen
mit dem Taschenmesser
in mein Pult geritzt,
hatte mit meiner Nosferatu-Pranke
dein Herz gepfählt
und hinterm Schild der Bücher
noch im Unterricht
deinen Hals zerbissen
und dein Blut getrunken.
VIII
Das Treffen nach der Schule
musste geheim bleiben.
Schwör mir‘ s
Ich schwör‘ s.
Du weißt dass die Meineid-Hand verdorrt.
Meine Tribute für deine harte Faust:
Ein blaues Glas
dunkler als der Himmel
eine rote Muschel
ferner als das Meer.
Du schenktest mir nichts.
Aber ein Siegel blieb auf meiner Stirn,
das nie mehr abzuwaschen war.
IX
Als Goldregen über Steinmauern fiel
und die Wasser die Gärten
in den Himmel hängten,
stieg dein Spiegelbild aus dem Grund.
Du trugst das Visier deiner Jugend.
Die steilen Knospen waren erigiert.
Die verbotenen Wege verengten sich
zu hohen Fontänen.
X
Wir spielten unsere Träumerei
durch beide Tongeschlechter
vierhändig verschränkt
und achteten anfangs darauf,
dass wir uns dabei nicht berührten,
aber wenn es doch geschah,
durchzuckte uns ein elektrischer Schlag.
Dann ergab es sich,
dass wir uns über klingende Leitern hinweg
Finger zu Finger ertasteten,
und die Akkorde mussten
in langen Pausen
auf eine Auflösung warten,
die nie erfolgte.
Den Zyklus LES ENFANTS DU PARADIS widmete ich, wie in der letzten Woche ausgeführt, ARLETTY. Das Autogramm-Foto befindet sich in meinem Archiv.