Freitag, 26. Juli 2024

(Foto: Gisela Heese)

 

Vorwort für eine Anthologie

Jürgen Schwalm: Hinterglasmalerei, 2019. Das altägyptische Henkelkreuz (= Anch-Zeichen., Bedeutung noch überhölht und als Schutzengel interpretiert, der mit ausgebreiteten Armen immer wieder aus der Nacht (schwarz ausgemalt) in den neuen Tag (hellrosa) führt und uns mit liebevollem Herz (rot) behütet.


Jürgen Schwalm

Vorwort für eine Anthologie von

Engelsgedichten der Wiesbadener Lyrikerin

Ellen Seib-Schaefer



Wenn in der großartigen Bach-Kantate zum Michaelistag „Es erhub sich ein Streit“ (BWV 19) gesungen wird: "Bleibt, ihr Engel, bleibt bei mir! Führet mich auf beiden Seiten, dass mein Fuß nicht möge gleiten“, dann wird in dieser barock bewegten und bewegenden Anrufung der Beistand von Boten erfleht, deren Existenz geistige Realität ist. Schon das darauffolgende Jahrhundert mit seiner mechanistischen Denkweise sah in den Engeln vorzugsweise vordergründig nur noch Phantasiegestalten einer Kindermärchenwelt, die heute nach wie vor gerne zu Weihnachtskitsch verzuckert wird.

Es ist immer sinnvoll, der Sprache auf den Grund zu gehen. ENGEL kommt vom griechischen Wort Angelos = Bote. Boten können gute oder schlechte Nachrichten übermitteln, aber was sie auch immer bringen, sie handeln stets in höherem Auftrag. Engel sind Boten der Mächte, die unser Geschick bewahren und leiten. Sie nahen in vielen Gestalten. In der Antike waren sie Götterboten. Als Gesandte des Gottes der Christenheit verkünden sie das „Ev-Angelium“, die „gute Botschaft“. So brachte der Erzengel Gabriel Maria den göttlichen Gruß. Das Gute, das die Engel bringen, empfangen wir gerne. Aber wir müssen auch solche Botschaften annehmen, die uns belasten. Da ist es eine Gnade, dass die Engel, die uns heimsuchen, uns auch dienen dürfen, indem sie unsere Bitten anhören und als Fürsprecher weiterleiten.

Es gibt die WAHRHEIT DER ENGEL. Um diese Einsicht muss allerdings immer wieder gerungen werden. Von ihrer Botschaft zutiefst getroffen, ja verletzt zu werden, bedeutet für uns die Rettung aus den Abgründen des Lebens. Wir sind verloren, wenn wir die Engel leugnen. Wir können sicher sein, dass in unserer immer wieder bedrohten Welt Mächte wirken, die uns führen und bergen und lieben. Wir können nur überdauern, wenn wir den Kräften der Engel vertrauen, wenn wir die Engel mit ihrem Ev-Angelium bei uns einkehren lassen. DIE WOHNUNGEN DER ENGEL SIND IMMER IN DEN HIMMELN, DIE WIR IHNEN IN DEN EIGENEN HERZEN BEREITEN.

 

 

 

 

 

 


 

Freitag, 19. Juli 2024

Christel Schwalm in memoriam


 

Meiner lieben Frau
Christel Schwalm, geb. Mix
geb. 5. Dezember 1930 in Danzig
gest. 2. Januar 2018 in Lübeck
in memoriam

Das Heiligenfest von Christels Namenspatronin, der Heiligen Christine, wird am 24
Juli gefeiert. 1997 schenkte Olaf Steinbring Christel die Ikone der Heiligen Christine,
die er selbst gemalt hatte (Eitempera, Blattgoldauflage) und die hier abgebildet ist.

Um den Bildinhalt zu verdeutlichen, lasse ich hier Auszüge aus den Eintragungen über die Heilige Christina in Reclams Lexikon der Heiligen und der biblischen Gestalten (4. Auflage 1979) folgen:

Der Märtyrerin aus dem 3. Jh. wird frühe Verehrung und eine erst später einsetzende, reich mit Martyrien ausgestattete Verehrung zuteil. Von ihrem Vater mit 12 Dienerinnen in einemTurm auf einer Insel im See von Bolsena eingeschlossen, soll sie den silbernen und goldenen Göttern, die er ihr aufgestellt hat, geweiht bleiben. Chr. wird, vom Heiligen Geist belehrt, Christin, zerbricht die Götterbilder, wirft andere in den See und schenkt das Geld den Armen. Der wütende Vater lässt sie von 12 Männern schlagen, bis diese schwach werden, ins Gefängnis werfen, wo ihre weinende Mutter sie zu beschwören versucht, nachzugeben. Aber der zum Richter der Christenverfolgung bestellte Vater lässt ihr die Glieder zerbrechen, ihr Fleisch mit Nägeln reißen, sie wirft ihm einen Fetzen des Fleisches ins Gesicht. Als man sie auf ein Rad bindet, unter dem ein Feuer angezündet wird, schlägt die Flamme aus und tötet 1500 Umstehende. Da wird sie der Zauberei angeklagt, wieder ins Gefängnis gebracht und in der Nacht mit einem Mühlstein am Hals ins Meer geworfen. Engel halten sie über Wasser, Christus selbst erscheint ihr , tauft sie und übergibt sie dem Erzengel Michael, der sie ans Land bringt. Wiederum als Zauberin angeklagt, soll sie nun enthauptet werden, da wird ihr Vater tot aufgefunden. Sein Nachfolger setzt aber die Martern fort. Er lässt in einer eisernen Wiege Öl, Pech und Harz entzünden, Chr. hineinlegen und von 4 Männern schaukeln, „auf dass sie umso heftiger brenne“. Sie lobt Gott, dass er sie als Neugeborene sanft wiegen lasse, - nichts kann ihr etwas anhaben. Geschoren und nackt vor eine Apollo-Statue geschleift, zerfällt diese zu Staub, und der Richter stirbt vor Schreck. Sein Nachfolger sperrt sie 5 Tage in einen glühenden Ofen; Sie wandelt darin und singt mit den Engeln. Schlangen werden gebracht – sie lecken ihren Schweiß ab und legen sich kühlend um ihren Hals. Als ein Zauberer nun die Schlangen reizen soll, stürzen sich diese auf ihn und töten ihn. Chr. aber gebietet den Schlangen, an einen wüsten Ort zu entweichen und erweckt den toten Zauberer. Die Brüste werden ihr abgeschnitten und verströmen Milch statt Blut; Chr. behält die Sprache, als ihr die Zunge abgeschnitten wird, die sie dem Richter ins Gesicht wirft, dass er erblindet. Aber von den Pfeilen, die er nun auf sie abschießt, treffen sie zwei und töten sie im Jahr 287.





 

Freitag, 12. Juli 2024

Else Lasker-Schüler

Jürgen Schwalm: "Vision", Hinterglasmalerei über Collage, 2005

 

Else Lasker Schülers Vorstellungen von Israel als Heimat, als wiedererstandenes
alttestamentarisches Königreich, waren ganz und gar in mythischen Bereichen
verwurzelt und hatten keinen Bezug zur Realität ihrer Gegenwart; deshalb musste sie
vom Jerusalem ihrer Zeit enttäuscht sein. Vor Jahrzehnten schrieb ich über Else

Lasker-Schüler das nachfolgende poetische Psychogramm:

Else Lasker-Schüler

Es gibt Erwachsene, die sich nie von ihren Spielsachen trennen möchten, weil sie
Kinder bleiben wollen. Else Lasker-Schüler gehörte zu ihnen.

Sie hatte eine kleine goldene Schere. Damit schnitt sie die Sonne, den Mond und die
Sterne aus dem Himmel und klebte sie auf Glanzpapier, und wenn sie davon nicht
genug hatte, nahm sie auch Zeitungspapier, aber dann hat‘s keiner bemerkt, so
hübsch war das, was sie gebastelt hatte.

Sie war ein Kind, das aber schließlich doch Gottes Zorn betraf. Bevor das geschah,
besaß sie ein blaues Klavier, und sie gab ihm seine besondere Klaviatür Denn
Kinder wie Else dürfen sich alle Worte blau auf weiß zurechtrücken, bis sie passen,
und spielen dann so lange auf den Tasten, bis sie zerbrechen. Dafür werden ihnen
zur Strafe die Flügel von den Schulterblättern getrennt, aber aus ihren Herzen
wachsen schließlich schwarze Astern.

Jürgen Schwalm


(aus: Jürgen Schwalm: Wort und Bild und Kunst und Leben, 2021) 




Freitag, 5. Juli 2024

Schlecht gemischt

 


Nach unserer Flucht im Jahre 1945 hausten wir -praktisch besitzlos- in einem alten Bauernhaus auf einem Dorf in Niedersachsen.  Durch die von der Besatzungsbehörde angeordnete Ausgangssperre waren wir vier Kinder und unsere Mutter gezwungen, die Abende im Hause zu verbringen, hatten jedoch weder Bücher, Spiele noch Radio. Da fand ich in einer Abstellecke, die von den Vorbewohnern des Hauses nicht ausgeräumt worden war,  u.a. einen Tuschkasten mit Aquarellfarben, jeweils ein Gefäß mit schwarzer und roter Tinte und zwei Schiefertafeln mit Griffeln (die wir dann für Notizen, etwa für Einkäufe, gebrauchten, weil wir kein Schreibpapier hatten). Vor allem aber lag dort als Relikt aus Kriegszeiten ein kleiner Stapel dünner Kartons, aus denen man kleine Feldpost-Päckchen (10 cm X 8,5 cm X 4,0 cm) zusammenfalten bzw. -stecken konnte. Aus dieser Pappe schnitt ich jeweils 4,0 X 8,0 cm große Spielkarten und bemalte sie. Mit diesen Karten spielten wir, bis wir 1946 wieder Kartenspiele käuflich erwerben konnten, Rommé und Patiencen. Nach dem Tod meiner Mutter verwahrte meine Schwester Renate die Karten, die sie mir - noch in dem originalen, gefalteten Feldpostpäckchen- nach Jahrzehnten bei einem Besuch zurückgab als Erinnerung an gemeinsam durchlebte schlechte Zeiten.

 

 

Jürgen Schwalm 


Schlecht gemischt


Schlecht gemischt

aber gut abgehoben –

 vielleicht geht das Spiel doch noch auf?

Aber ich hab ja immer Pech beim Kartenlegen.

Sicher läuft mir also wieder etwas schwarzkatzig

und kreuz und karo über den Weg

und nie der Schornsteinfeger ins Glück.

Richtige Karten

und Glück in der Liebe

sind ein Geheimnis,

das man nicht aus dem Ärmel zupfen kann

wie Zauberkarten

aus einem speckigen Zylinder

an märchenfernen Jahrmarktstagen,

als ich für die Dauer einer Karussellfahrt dein Herzbube war. 

 

 

 

 

 

Freitag, 28. Juni 2024

Die Sintflut

Das gefangene Einhorn, ein Teppich der Gobelin-Serie "Die Einhorn-Jagd", französisch / flämisch, um 1500, Metropolitan Museum New York,  Abbildung in Rüdiger Robert Beer: Einhorn - Fabelwelt und Wirklichkeit, Verlag Georg D.W. Callwey München 1972

 

Jürgen Schwalm

 

Die Sintflut

 

Als ich ein Kind war,

 zeichnete ich die Tiere

in der Arche Noah.

Ein Einhorn-Pärchen

war auch dabei;

 das rührte meine Großmutter

damals zu Tränen.

 

 Denn sie dachte an das Unglück,

das geschah,

als nach der Sintflut

die Wasserfluten wieder sanken:

 

Sowie sie das feste Land sahen,

sprangen nämlich die gierigen Raubtiere

sofort vom Schiff.

Das scheue Einhorn-Pärchen wollte fliehen,

aber die Raubtiere töteten es

und vernichteten damit

viele traulichen Märchen

 und einen großen Schatz der Fantasie.

 

(in: Aus Arm in Arm und Wort für Wort, 2020)

 

 

 

 

 

Freitag, 21. Juni 2024

Eine Berglegende

Heinrich Schwieger-Uelzen: Betender Bauer vor Kruzifix, Öl, 1927, reproduziert beim Gedicht "Eine Berg-Legende" in Jürgen Schwalm, Heinrich Schwieger-Uelzen, Eva Schwieger-von Alten: "Schwingen", Breit-Verlag, 1984

 

Jürgen Schwalm

 

Eine Berglegende

 

Vor dem Wald lagen die Wolken als Himmelbett für die Schafe und die Sonne schien aus Gottes rechtem Augenwinkel - Die Sommerwiese blühte ins Blau - Du rochst nach Honig und Klee - Es tropfte vom Eis der Firne - Von deinen Augen floss die Wasserschale über -Blaubeeren wuchsen zwischen deinen Fingern die Hänge hinab - Hexen strickten im Halbschatten Strümpfe für die Mücken aus Spinnweb - So waren alle deine Märchen

Als der Abend ging zur Ruh

Kam ein Fiedler hergezogen

Strich den harzbetränten Bogen

Deine Tiere hörten ganz verzaubert zu

Tratst du barfuß auch herzu

Bist im Liede aufgeflogen –

So waren alle deine Märchen - ohne alle Tücken - Sterne unschuldiger Kinder – Aber ich habe dir Wasser und Erde abgefordert als Zeichen deiner Übergabe – stach dir die Seitenwunde – da goss die Liebe aus – Um unsern Hals war nun der Kettenring gelegt der uns verschloss und unsre Haustür vor den Späherblicken – Ich fraß mich in die Wände unsres Hofes ein – Kein Wetter konnte mich dort mehr auswaschen – Du stelltest noch immer Blumen auf den Tisch – doch jetzt mit Thymian und Frauenmanteltee zum abgebrühten Seelenheil im Winkel – Altbackene Abendstunden in denen wir glücklich sein mussten – wir hatten keine Wahl – nur eine Last die krümmt – Es schärfte sich das Messer unserer Lieder – Ich sah den Tod im roten Hut aus Mohn – der fuhr bergan im Knochenschlitten – aber es war heiß - hatten meine Sorgen ein schwarzes Kreuz aus Eisen geschmiedet – das stand auf kargem Acker - und unsre Hände wurden Fichtenborke – Du wolltest mir noch einmal einen Tag heraufreichen – Eben hielten deine Hände noch den Holzkorb – nun sind sie so hilflos leer – nur noch Gebet aufgerichtet vorm Wald am steinigten Weg – auf dem ich das letzte Mal heimkehren werde – Vogel um im Nest zu sterben

Wenn der Abend geht zur Ruh

Kommt ein Fiedler hergezogen

Streicht den harzbetränten Bogen

Meine Tiere hören ganz verwundert zu

Tret ich barfuß auch herzu

Wird das Lied bald nicht mehr singen

Wird mein Herz wie Glas zerspringen –



(Der Text wurde in automatischer Schreibweise nach einem Traumbild verfasst: Ich sah auf einer nach Thymian duftenden Sommerwiese einen Schlitten; als ich näher kam, entdeckte ich mit Erschrecken, dass er aus zusammengebundenen Menschen (?) – Knochen bestand. – Der Text wurde erstmals veröffentlicht in: Jürgen Schwalm, Heinrich Schwieger-Uelzen, Eva Schwieger von Alten: Schwingen, Breit-Verlag 1984)