Freitag, 26. August 2022

Ikaros

Jürgen Schwalm: „Ikaros“, Collage, 2021



Jürgen Schwalm

Ikaros

Nun lass dein buntes Gefieder singen, geliebter Seelenvogel, tiefvertrauter, du, und jage die Wolken für mich in die Flucht. Nimm mir den Nebelwürgegriff vom Hals und zieh mich aus der Betäubung hinauf zum geschliffenen Licht. Deine wilden Schreie dringen auch aus meiner Kehle. Flieg auf und trink die Sonnenschalen leer für mich. Ich war verloren, doch du hast mich gefunden. Du hast mich gerettet und bei dir aufgenommen. Beschwingt waren deine kühnen Schultern, als du mich mit dir in unseren Himmel nahmst. Nie mehr fürchte ich seitdem die Tiefen, weil ich einmal mit dir das Ziel erreichte. Tropfte droben auch das Wachs aus deinen Flügeln, Ikaros, mein Seelenvogel, du, ich ängstigte mich längst nicht mehr, als deine Schwingen auseinander fielen, weil deine Arme mich umschlangen, indem du mit mir abwärts glühtest. Im Sturz trafst du mein Herz als Brandfackel. Wir landeten und waren zu uns heimgekehrt. Der Schatten unserer Lagunenstadt schützt unser Geheimnis: 
Einst werden wir wieder gemeinsam schweben 
im Licht.

 

 

 

 

 








 

 

 

Freitag, 19. August 2022

Das Henkelkreuz

Jürgen Schwalm: Das Henkelkreuz. Hinterglastechnik, 2019. Die Schleife des Kreuzes ist mit Rot ausgefüllt als Farbe des Lebens und der Liebe. Das Kreuz führt aus dem Schwarz der Nacht und des Todes zum Weiß des Tages und des Lichtes.

Jürgen Schwalm: Der Schutzengel. Hinterglastechnik 2019. Das Henkelkreuz diente als Motiv für den Engel.


 Das Henkelkreuz

Es ist ganz falsch, bei der Beschäftigung mit der altägyptischen Theologie das Augenmerk allzu sehr auf den Totenkult zu richten. Alle beim Totenkult eingesetzten komplizierten Rituale und alle Beschwörungen aus den Totenbuch-Texten galten nicht der Verherrlichung des Todes, sondern dem Abschied vom Tod.

Auch bei den alten Ägyptern stand nicht der Tod im Zentrum des Glaubens, sondern der entscheidende Weg zum Glück und zur ewigen Seligkeit führte immer aus dem Todesschatten ins Licht, und das Licht war das Leben.

Darin unterschied sich die altägyptische Religion gar nicht entscheidend von der christlichen, und tatsächlich hat das Christentum Bilder aus der altägyptischen Glaubenswelt übernehmen beziehungsweise umdeuten können (Beispiel: Isis und der Horusknabe wird zur Maria lactans mit dem Jesuskind).

Das Symbol für das ewige Leben war bei den Ägyptern das Henkelkreuz     (= das Anch-Zeichen, die Crux ansata, die Lebensschleife). Das Henkelkreuz wurde als koptisches Kreuz zum Symbol der koptischen Kirche und damit wie jedes Lebens- und Lichtzeichen auch ein Symbol für die Liebe als lebenserneuernde Kraft und Macht.

Jürgen Schwalm

 

 

 

 



 

Freitag, 12. August 2022

Liebe

„Stein-Paar“. Zwei Buchstützen, aus einer großen Amethyst-Druse geschnitten, halten den Sammelband „Das heiße Raubtier Liebe – Erotik und Surrealismus“, herausgegeben von Heribert Becker.

 

Jürgen Schwalm 

 

Liebe

Wir hatten uns gekannt,

bevor wir uns begegneten,

wir hatten uns längst begrüßt,

umarmt,

geküsst,.

geliebt.

Als wir uns trafen,

war es nur ein Wiederfinden.

 Der Raum war aufgebaut,

die Zeit bestimmt.

Wir wussten jedes Wort,

das wir sagen würden,

bis die Worte überflüssig wurden,

bis es kam, wie es kommen musste,

das Tasten,

das Berühren,

das Durchdringen,

bis wir gemeinsam

 wieder im Anfang versanken

zum Neubeginn.

 

 

 

 

 

Freitag, 5. August 2022

Sommermittag

Jürgen Schwalm: „Erinnerung an Rhodos“, 2005. Schaukasten mit Glasmalerei und einem weißen Kochlaki-Kiesel aus Rhodos

 

Jürgen Schwalm

Die Musik ist mit der Lyrik eng verwandt. Lyrik kann Musik sein und Musik lyrische Dichtung. In meinem Gedicht „Sommermittag“ erklingt mit dem Satz „Fern der Horizont hat ganz vergessen, dass sein Blau schon längst der Himmel ist“ eine frühe Inspiration, die ich in späteren Gedichten lyrisch variierte:

 

Sommermittag

Röstet am Ufer Sand und Tang,

wird das Meer zur Sonnentränke.

Die Luft verflirrt im Möwentanz.

Fern der Horizont hat ganz vergessen,

dass sein Blau schon längst der Himmel ist.

 

(geschrieben 1954)