Freitag, 30. Dezember 2022

Orpheus und Eurydike


 Orpheus und Eurydike


Als ich in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Freiburg /Breisgau studierte, sah
ich Jean Cocteaus Film „Orphée“, in dem die antike Geschichte vom Sänger Orpheus in die
Zeit nach dem 2. Weltkrieg verlegt wurde. In der Folgezeit habe ich mich, besonders nach
mehreren Aufenthalten in Griechenland, immer wieder mit der Orpheus-Thematik beschäftigt
und in den achtziger Jahren eine eigene Version der Geschichte verfasst, die meine
Freundin und Muse Eva Schwieger von Alten außerordentlich berührte. Da die Kenntnis
der Orpheus-Sage heute nicht mehr vorausgesetzt werden kann, sei sie hier kurz in ihrer
klassischen Gestaltung nacherzählt:


Orpheus, der berühmteste unter den mythischen Sängern Griechenlands, der
Hauptrepräsentant der Kunst des Gesanges und des Saitenspiels, war nach der Sage ein
Sohn der Muse Kalliope und des Apollon. Durch die Macht seines Gesanges und des
Saitenspiels konnte er die wildesten Tiere bezähmen und selbst die Steine bewegen. Als ihm
seine durch den Biss einer Schlange tödlich verwundete Gattin Eurydike entrissen worden
war, stieg er selbst in die Unterwelt hinab und vermochte Hades, den finsteren Beherrscher
der Unterwelt, durch seine Musik zu erweichen. Hades gestattete Orpheus, die Geliebte
wieder auf die Oberwelt zurückzuführen. Da aber Orpheus gegen das ausdrückliche Verbot
des Hades sich nach Eurydike umschaute, bevor sie ans Tageslicht emporgestiegen waren,
musste sie für immer zu den Toten zurückkehren. - Auch an der Fahrt der Argonauten soll
Orpheus teilgenommen haben und später, da er sich dem wilden orgiastischen Kult des
Dionysos widersetzte, von wütenden Bacchantinnen zerrissen worden sein.


Eva Schwieger von Alten zeigte meine Version der Orpheus-Sage ihrer Freundin, der
Bildhauerin Ingeborg Steinohrt (1917-1994) in Hannover, und diese beschloss, eine Szene
aus meiner Erzählung in zwei Statuetten darzustellen, wobei sie meine Frau und mich als
Modelle für die Figuren Eurydike / Orpheus auswählte. In meiner Orpheus-Version heißt es
bei der Wiederbegegnung von Orpheus mit Eurydike in der Unterwelt an entscheidender
Stelle:


Staunend steht sie da, streift das Totentuch von der Stirn zurück und fragt: Was ist das für
ein Traum, in den ich hier erwache? Zugleich erkennt sie mit freudigem Erschrecken: Ihr
Götter, das ist ja das Leben, das bist ja du, und sie hebt ihm ihre Hand entgegen, die eben
noch zögerte…


Diese Textstelle realisierte Inge Steinohrt in ihren Statuetten, die durch die Finanzierung von
Eva Schwieger von Alten in Bronze gegossen werden konnten und die Eva Schwieger von
Alten meiner Frau und mir schenkte.

So kann eine Geschichte weitere Geschichten nach sich ziehen und können Worte
tatsächlich Gestalt annehmen.

(Eine ausführliche Fassung der Episode findet sich in dem Kapitel „Wer war Cocteau?“ in:
Jürgen Schwalm „Wort und Bild und Kunst und Leben – Einfälle zu Vorfällen“, Seemann
Publishing, 2021)

Allen Freundinnen und Freunden wünsche ich im neuen Jahr Gesundheit und Zufriedenheit


Euer Jürgen / Jorgos

 

 

 

Freitag, 23. Dezember 2022

Naturspiele


Naturspiele

Mineralien können in ihrer Struktur und Farbe unsere Fantasie anregen. Dann können sie uns mit Bildern täuschen, die uns bezaubern, etwa mit der Darstellung von Blumen und Blättern, Bäumen, Tieren, Gesichtern, Häusern, Ruinen, Landschaften oder Ritterburgen. Meine Mineraliensammlung enthält viele Beispiele für dieses Phänomen. Einige habe ich für Sie auf diesem Foto zusammengestellt:


1. Ein Bild, das den Titel „Die Ruine“ oder „Der Steinbruch“ erhalten könnte, erscheint durch    den vorangegangenen Steinschliff auf einem Achat.

2. „Kräuter und Moose“, die wir auf einem Schieferblock zu sehen glauben, sind keine Pflanzenversteinerungen, sondern Eisen- und Mangandendriten.

3. Die Strukturzeichnung auf der Sandsteinstufe, die eine „Sanddünenlandschaft“ vortäuscht, ist durch Eisenoxid- Einlagerungen bedingt.

5. Einfärbungen im Achat lassen eine „Landschaft mit Bäumen“ entstehen.

6. Auf der Achatbrosche erscheint eine „Alte Stadt“.

7. Die hellen Auflagerungen auf dem schwarzen Basaltblockes ähneln frappierend "Schimmelpilz- und Bakterienkulturen“, bestehen aber aus Aragonit. 9. Auf dem Stein befindet sich keine versteinerte „ Blüte“, sondern das Phänomen wird durch Auflagerungen von kleinen Coelestin-Kristallen hervorgerufen.

Allen, die meinem Herzen nahe stehen, wünsche ich ein gutes Weihnachtsfest!

 Jürgen Schwalm

 

Freitag, 16. Dezember 2022

Voltaire

Voltaire. - Porträt (1736) von Maurice Quentin de la Tour (1704-1788) Bildarchiv Jürgen Schwalm

 

Es gibt unzählige Anekdoten, die sich um Voltaire (Francois-Marie Arouet, 1694-1778) ranken. Einige besonders bezeichnende stehen in der spannenden Biografie “Die göttliche Geliebte Voltaires - Das Leben der Émilie du Châtelet (1706-1749)“ von Samuel Edwards:

1.

Bei einem Empfang bei Madame du Châtelet wurde eine leichte Verlegenheit im Saal bemerkbar, als Voltaire den Bischof von Chauveront begrüßte und sich dabei sehr herzlich nach dem Ergehen des Allmächtigen erkundigte.

2.

Originalton Voltaire: „Das einzig Schöne, das uns bisher hier begegnet ist, das ist die breite, baumbestandene Allee, die vom Eingangstor bis hinauf bis zu dem Schloss Beringhen führt. Ach, und die Gegend ist so karg und die Atmosphäre hier so trübselig, dass Mm. du Châtelets Hunde sich weigern, diese Bäume zu dem von der Natur gewollten Zweck zu benützen.“

3.

Eines Morgens erschien Voltaire bei Hofe und zeigte voller Stolz eine Goldmedaille, in die das Bild des Papstes eingraviert war. Sie kam von Benedikt, und als Voltaire, wie er berichtete, sich beschwert hatte, weil sie so klein sei, hatte der Papst ihm geschrieben: „Dies ist die einzige Größe, die wir haben herstellen lassen. Wir könnten Ihnen keine größere geben, auch wenn Sie Petrus selbst wären.“

                                                                                                        Jürgen Schwalm

 

 

Freitag, 9. Dezember 2022


1. Robert Schwalm, 2. Arthur Nikisch. - Bildarchiv Jürgen Schwalm

Eine Freundin, die sich schon immer über meinen genealogischen Tick (wie sie das nannte) amüsierte, schickte mir das 1904 bei Breitkopf und Härtel herausgegebene Textbuch des Oratoriums „Der Jüngling zu Nain“ nach einer Dichtung von Julius Sturm (1816-1896), das von Robert Schwalm als op. 65.(für Chor, Soli und Orchester/Orgel) vertont worden war. Die Broschüre war ihr, als sie im Bücherschrank nach Schubert-Noten suchte, entgegen gefallen.

Sie fragte: Ist der Jüngling zu Lübeck namens Jürgen mit diesem Robert verwandt? Und was weiß er über den frommen Komponisten?

Natürlich studierte ich gleich meine Akten, fand jedoch keine verwandtschaftlichen Bezüge. Aber Robert Schwalm (geb.1845 in Erfurt, gest.1912 in Königsberg) war in wilhelminischer Zeit ein durchaus anerkannter Komponist. Er erhielt seine erste musikalische Ausbildung in Weimar, wobei er das Interesse Liszts fand, und besuchte dann das Leipziger Konservatorium. Seit 1875 war er Leiter des Königsberger Sängervereins, wurde außerdem dort 1882 Leiter der Musikalischen Akademie und 1881 zum Königlichen Musikdirektor in Königsberg ernannt. Seine Oper „Frauenlob“ wurde immerhin unter dem bedeutenden Dirigenten Arthur Nikisch (1855-1922) in Leipzig 1885 aufgeführt. Nikisch wurde 1895 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker.

In Spemanns 1909 erschienenem Goldenen Buch der Musik wird sowohl Robert Schwalm als auch sein Bruder Oskar Schwalm (1856-1936) erwähnt, der in Berlin die Filiale der Pianoforte-Fabrik von Julius Blüthner leitete, die 1853 in Leipzig gegründet worden war.

Vielleicht meldet sich ein Blog-Leser von den Nachfahren Robert und Oskar Schwalms bei mir?

Jürgen Schwalm

 

 

 

 

Freitag, 2. Dezember 2022

Menzels Fuß


 

Jürgen Schwalm

Menzels Fuß

…Es ist nicht die glatte Schönheit, die uns berührt. Es ist die überwältigende mahnende Kraft der Hässlichkeit, die uns erschüttert.. Es muss nicht unbedingt unser Gesicht sein, das uns verrät.Adolph Menzel (1815-1905), dessen Talent sich wahrlich nicht in der Schilderung friderizianischer Zeiten (Das Flötenkonzert in Sanssouci, 1852) erschöpfte, wagte 1876 als 60-jähriger einen damals unerhörten Tabu-Bruch in der Motivwahl :Er malte ein Selbstporträt, aber er wählte dafür nicht sein Gesicht, sondern seinen – rechten Fuß!

Er malte seinen Fuß so, wie die fotografische Kamera diesen Körperteil erfassen würde, ohne Mitleid mit gnadenloser Sachlichkeit. Die Großaufnahme seines Fußes könnte für medizinische Demonstrationszwecke eingesetzt werden. Auf diesem Fußporträt gibt es bei Menzel erstaunliche Relationen zu entdecken: Die steil nach oben gerichteten, quadratisch verschwollenen Zehen mit der schmerzbedingt angehobenen, verkrümmten Großzehe entsprechen der gefurchten Stirn. Der Fußrücken in der Bildmitte könnte die ramponierte Gesichtsfläche sein, der Schenkelansatz am unteren Bildrand der Hals.

Aber hier wird nicht wie bei Arcimboldo mit dem Witz der Entsprechungen und Täuschungen karikiert; bei Menzel ist die Darstellung todernst in ihrem strengen Realismus: Krampfadern wölben sich auf, livide Verfärbungen verraten Durchblutungsstörungen, Pilze beginnen, die Nägel zu zerfressen. Menzels elenden Fuß hat das Leben verformt; dieser Fuß musste im eigentlichen Wortsinn viel ertragen. In seiner krankhaften Entstellung ist er das Abbild des Lebens in seiner Vergänglichkeit.

Menzel stellte seinen Fuß als Opfer dar, aber nicht als Votivgabe für den Tempel der Kunst. Er weist ihn vor als erschütterndes Memento mori.

(Zitat aus: Jürgen Schwalm: Wort und Bild und Kunst und Leben, Seemann-Verlag, 2021)