Freitag, 2. Dezember 2022

Menzels Fuß


 

Jürgen Schwalm

Menzels Fuß

…Es ist nicht die glatte Schönheit, die uns berührt. Es ist die überwältigende mahnende Kraft der Hässlichkeit, die uns erschüttert.. Es muss nicht unbedingt unser Gesicht sein, das uns verrät.Adolph Menzel (1815-1905), dessen Talent sich wahrlich nicht in der Schilderung friderizianischer Zeiten (Das Flötenkonzert in Sanssouci, 1852) erschöpfte, wagte 1876 als 60-jähriger einen damals unerhörten Tabu-Bruch in der Motivwahl :Er malte ein Selbstporträt, aber er wählte dafür nicht sein Gesicht, sondern seinen – rechten Fuß!

Er malte seinen Fuß so, wie die fotografische Kamera diesen Körperteil erfassen würde, ohne Mitleid mit gnadenloser Sachlichkeit. Die Großaufnahme seines Fußes könnte für medizinische Demonstrationszwecke eingesetzt werden. Auf diesem Fußporträt gibt es bei Menzel erstaunliche Relationen zu entdecken: Die steil nach oben gerichteten, quadratisch verschwollenen Zehen mit der schmerzbedingt angehobenen, verkrümmten Großzehe entsprechen der gefurchten Stirn. Der Fußrücken in der Bildmitte könnte die ramponierte Gesichtsfläche sein, der Schenkelansatz am unteren Bildrand der Hals.

Aber hier wird nicht wie bei Arcimboldo mit dem Witz der Entsprechungen und Täuschungen karikiert; bei Menzel ist die Darstellung todernst in ihrem strengen Realismus: Krampfadern wölben sich auf, livide Verfärbungen verraten Durchblutungsstörungen, Pilze beginnen, die Nägel zu zerfressen. Menzels elenden Fuß hat das Leben verformt; dieser Fuß musste im eigentlichen Wortsinn viel ertragen. In seiner krankhaften Entstellung ist er das Abbild des Lebens in seiner Vergänglichkeit.

Menzel stellte seinen Fuß als Opfer dar, aber nicht als Votivgabe für den Tempel der Kunst. Er weist ihn vor als erschütterndes Memento mori.

(Zitat aus: Jürgen Schwalm: Wort und Bild und Kunst und Leben, Seemann-Verlag, 2021)

 

 

 

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