Freitag, 26. April 2024

(Foto: Gisela Heese)

 

Kaiser Wilhelm II und Hans Dragendorff

Meine Großeltern Hans Dragendorff und Marie Dragendorff, geb. Rein; Foto um 1900. Bildarchiv Jürgen Schwalm

 

Im August 1897 schrieb Bernhard von Bülow (1849-1929), von 1900-1909 Reichskanzler, über Wilhelm II (1859-1941), von 1888-1918 deutscher Kaiser:

 „S. M. als Mensch reizend, rührend, hinreißend, zum Anbeten; als Regent durch Temperament, Mangel an Nuancierung und zuweilen auch an Augenmaß, Überwiegen des Willens über die ruhig-nüchterne Überlegung…von schwersten Gefahren bedroht, wenn er nicht von klugen und namentlich von ganz treuen und sicheren Dienern umgeben ist. Davon wird es abhängen, ob seine Regierung ein glänzendes oder ein düsteres Blatt in unserer Geschichte ausfüllt. Bei seiner Individualität ist beides möglich.“

Diesen Sätzen hätte mein Großvater, der Archäologe Prof. Dr. Hans Dragendorff (1870-1941), zugestimmt, wurde er doch, seit 1911 Leiter des Archäologischen Institutes in Berlin, mehrfach zu Arbeitsessen und Arbeitsgesprächen mit dem Kaiser in das Berliner Schloss geladen. Dragendorff hat in Gesprächen mit meiner Mutter (Lotte Schwalm, geb. Dragendorff) immer betont, dass er dabei alle archäologischen Anliegen der Zeit, vor allem auch die finanziellen Probleme bei Grabungen, offen ansprechen konnte, und dass der Kaiser rasch bereit war, Lösungen zu finden bzw. zu delegieren, wobei er bei  Engpässen sogar die eigene Schatulle öffnete. Dragendorff sagte zu meiner Mutter, dass der Kaiser bei gründlicher Ausbildung vielleicht sogar ein guter Archäologe geworden wäre, da er wirklich Interesse an dem Fach gehabt hätte.

Als Kind war ich natürlich mehr an der Schilderung der Äußerlichkeiten dieser Treffen interessiert. Mein Großvater sollte mir dann vormachen, wie der Kaiser aß, nämlich wegen der Armlähmung nur einhändig, d.h. feste Speisen bekam er aufgeschnitten serviert. Da der Kaiser auch noch sehr schnell aß, die von ihm angesprochenen Gäste nichts essen durften und die Teller sofort abgeräumt wurden, wenn der Kaiser fertig war, kam mein Großvater nie zum Essen. War die Kaiserin Auguste Viktoria dabei, verzögerte sie, weil sie Mitleid mit den Gästen hatte, absichtlich das Essen, denn dann wurden die Teller erst fortgenommen, wenn sie -und nicht der Kaiser – fertig war. Bei Dragendorff erkundigte sich die Kaiserin einmal freundlich nach den Kindern, aber „das war rein rhetorisch; sie hatte keine Ahnung“, sagte mein Großvater.

Jürgen Schwalm

 

 

 


 

Freitag, 19. April 2024

Veranstaltung des Lübecker Autorenkreises am 25. April 2024

Jürgen Schwalm: Dramatische Landschaft, Acrylfarben auf Malkarton, 2012

 

Hinweis auf eine Veranstaltung des Lübecker Autorenkreises (Leitung Klaus Rainer Goll): Am Donnerstag, d. 25. April 2024, ab 16.00 Uhr, liest Jürgen Schwalm im Wiener Caféhaus, Lübeck, Breite Straße 62, ernste und heitere Texte aus seinen in den letzten Jahren erschienenen Publikationen.

Zitat aus der Einleitung:

…1976, in einer Zeit, als die Züge noch die Abfahrts- und Ankunftstermine einhielten, schrieb ich das Gedicht

 

Dreiundzwanziguhrneun

 

Du kamst mit dem Nachtzug –

Die Dunkelheit löschte die Entfernungen –

Die Signale waren auf Heimkehr gestellt –

Die Bahnhofshalle rollte den Schienenteppich aus –

Die Lampen bogen sich zum Empfang –

Meine Erwartung durchbrach die Sperren –

Vorm letzten Zeigersprung

riefen die Lautsprecher

nur noch persönliche Nachrichten aus –

Bei der Einfahrt suchte mich dein Blick –

Als ich ihn fing waren alle deine Reisen am Ziel –

Ankunftszeit Dreiundzwanziguhrneun –

Endstation

 

Damals fand in Bad Mergentheim der Weltkongress der Schriftsteller-Ärzte statt. Da las ich dieses Gedicht, und am Schluss trat Ilse Benn (1913-1995), die Frau von Gottfried Benn (1886-1956), auf die Gruppe zu, bei der ich stand, und sagte: „Endlich einmal einer, der noch ein Bahnhofsgedicht scheibt, meinen Mann hätte es gefreut.“ – Am nächsten Tag fand ein Busausflug mit den Autoren statt, da hörte ich, wie ein Autor in der Reihe hinter mir zu seinem Nachbarn so laut und deutlich, dass ich es hören musste, sagte: „Der Schwalm? Das ist auch bloß ein Protegé der Benn.“ – Als ich das meinem Freunde Armin Jüngling erzählte, sagte er: „Wenn ein Autor wegen eines anderen Autors neidisch wird, lästert er gleich so lange über alle seine Autorenfreunde mit, bis er am Schluss nur noch Autorenfeinde hat.“ -  Dieses Bonmot wollte ich Ihnen nicht vorenthalten…

 

 

 

 

 

Freitag, 12. April 2024

Venedig

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Cover eines Leporellos: 64 Fotos von Venedig; die italienische Ausgabe enthält keine Quellenangaben, erschien aber, wie sich aus einer Bildlegende ableiten lässt, nach 1933. Die Fotosammlung erwarb mein Großvater Theodor Schwalm im April 1935, als er sich mit seinem Sohn Eduard und seiner Schwiegertochter Tilly in Venedig aufhielt. - Die Musikstadt Venedig ist übrigens ein Schwerpunktthema des diesjährigen Schleswig - Holstein Musik Festivals (SHMF 2024).


 Jürgen Schwalm

Venedig

Obwohl Brunetti vom Ort eines gewaltsamen Todes zurückkehrte, konnte er nicht verhindern, dass sein Herz höher schlug beim Anblick der Glockentürme und der pastellfarbenen Fassaden, die vor ihm auftauchten, als das Polizeiauto über die Brücke fuhr. Schönheit änderte nichts, das wusste er, und vielleicht war der Trost, den sie spendete, nur eine Illusion, aber dennoch begrüßte er diese Illusion.

 Donna Leon, Venezianische Scharade,1996


Wo die Paläste an Mörtelfraß leiden
und an fauliger Gangrän,
wo die Fassaden verschimmeln
und die Wasserstraßen stinken,
können Brücken nur darüber seufzen,
dass sich dort noch immer
so viele Liebende vergondeln lassen,
in sentimentaler Verblendung
die Hochzeitsringe tauschen,
um schließlich doch
im Tränenmeer der Lagune zu versinken.

 

 

 

Donnerstag, 4. April 2024

Das Haus "Zum halben Monde"

 

Jürgen Schwalm

Das Haus „Zum halben Monde“

Im Februar 1974 übernahm ich die Praxisräume im 1. Stock des Hauses Sandstraße 16. Das Haus hat die alt-ehrwürdige Bezeichnung Zum halben Monde und ist noch heute an der Fassade durch ein Schild mit einem goldenen Halbmond gekennzeichnet, dessen Absturz ich allerdings immer befürchtete, wenn der Sturm allzu sehr durch die Sandstraße pfiff und an der Mauerverankerung des Schildes rüttelte.

In dem Haus befand sich seit 1812 die von Friedrich Ferdinand Suwe begründete und nach ihm benannte „Suwe’s Apotheke“.

Friedrich (Fritz) Ferdinand Suwe (geb. 1777 in Gnoien/Mecklenburg, gest. 1851 in Lübeck) war von Jugend an außerordentlich geschäftstüchtig; er war der geborene Kaufmann. Schon als Gehilfe in der Lübecker Ratsapotheke steigerte er deren Umsatz derart, dass ihm als Ausgleich gestattet wurde, nebenbei für eigene Rechnung einen Handel mit „Englisch Pflaster“ zu betreiben. Dieser lief so gut, dass Suwe, der nie studiert hatte, sondern ein Mann der Praxis war, sich 1806 eine eigene Apotheke kaufen konnte: die damalige Halbmond-Apotheke in der Holstenstraße.

Vom 6.- 9. November 1806 wurde Lübeck von französischen Truppen geplündert. Suwe überstand auch diese Prüfung. Er hatte die Schaufenster seiner Apotheke selber eingeschlagen, in seiner Offizin Tische und Schränke umgeworfen und „Sößlinge“ und sonstiges Kleingeld auf dem Fußboden verstreut, und der Trick gelang: als die Marodeure kamen, dachten sie, es wären schon Plünderer dagewesen und trollten sich gleich wieder.

Als Lübeck französische Stadt wurde, schmuggelte Suwe in großem Stil, wozu Napoleons gegen England gerichtete Kontinentalsperre geradezu herausforderte. Er stapelte Kaffee und Zucker in eigenen Niederlassungen in Steinrade und Stockelsdorf und brachte die Schätze in dunklen Nächten nach Lübeck.

Alle Lübecker hatten damals unter den Kontributionen viel zu leiden, doch die vor Lübeck zusammengezogenen Truppenkontingente brauchten viele Medikamente, und so glich sich der Verlust für ihn wieder aus. In der Notzeit waren die Grundstückspreise enorm gesunken. Suwe nützte das aus und erwarb 1812 das große Lübecker Giebelhaus in der Sandstraße, in dem er die Halbmond-Apotheke errichtete.

Als 1831 Dampferlinien nach St. Petersburg, Riga und Reval eröffnet wurden, profitierte Suwe auch davon. Seine Medikamente waren in Petersburg und im Baltikum sehr begehrt, und in Lübeck belieferte er das berühmte Institut von Dr. Leithoff in der Schildstraße.

Der Junggeselle Suwe hatte sich nie dafür interessiert, sein Geld vernünftig anzulegen. Und so fanden seine Erben, ein Bruder und zwei Neffen, nach seinem Tode zu ihrem Staunen in vielen Zimmern, Sälen und Kabinetten des großen Hauses in der Sandstraße beträchtliche Geldsummen unverschlossen gestapelt, die Suwe dort abgelegt hatte. Auch hinter den Paneelen seiner Wohnstube soll er gespartes Geld versteckt haben.

Von Suwe, der ein Original gewesen sein muss, sind noch zahlreiche weitere prachtvolle Geschichten überliefert.

Zum 1. Januar 1850 hatte Suwe seine Apotheke an Gustav Schliemann übergeben, der seinem Vorgänger einen ausführlichen Nachruf widmete, der 1852 in den „Neuen Lübeckischen Blättern“ publiziert wurde.

Das Haus „Zum halben Monde“ hatte ursprünglich eine große lübsche Diele, die etwa der Diele entsprach, die man heute im St. Annen-Museum bestaunt. Die alte Kaufmannsdiele in der Sandstraße wurde erst 1911 bei einem Umbau des Gebäudes entfernt.

Palmarum 1942 wurden bei dem verheerenden Luftangriff auf Lübeck alle Häuser der Sandstraße zerstört, nur die Fassade des Hauses „Zum halben Monde“ blieb stehen. Das ist auf zahlreichen historischen Fotos dokumentiert. Gleich nach dem Krieg hat eine Erbengemeinschaft das Haus – unter Verwendung alten, noch brauchbaren Baumaterials – wieder aufgebaut, sich allerdings nicht entscheiden können, auch das obere Giebelgeschoss in die Planung einzubeziehen. So schließt das Gebäude noch heute mit einem Flachdach ab.

Die Apotheke wurde von Ingeborg und Joachim Nevír geleitet; mit beiden verband mich eine hervorragende Zusammenarbeit und wir schätzen uns sehr.

In der Sandstraße habe ich bis zum 4. Quartal 1996 praktiziert. Die Apotheke in der Sandstraße hat inzwischen längst einen neuen Besitzer und heißt nach fast zwei Jahrhunderten jetzt Pegasus-Apotheke.

 


 

 

 

 

 

 

 

 

Abb. 1: 

Suwe erhält 1812 die Erlaubnis, eine Apotheke leiten zu dürfen. Lübeck war von 1806-1813 französisch besetzt (sog. Franzosenzeit), deshalb wurde das Dokument zweisprachig  abgefasst (Dokument im Stadtarchiv Lübeck)

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abb. 2: 

Karl Gatermann d.Ä. (1883-1959) : Die alte Kaufmannsdiele im Hause Sandstraße 16 (Lübecker Stadtarchiv)

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Abb. 3: 

Der Pfeil weist auf das "Haus zum halben Monde" in der Sandstraße Nr. 16, Foto aus den 1930ger Jahren

 

 

Abb. 4: 

Das Haus Sandstraße 16  nach der Zerstörung Palmarum 1942 

 

 

 

 

Freitag, 29. März 2024

Kosmas und Damian

Eremia Arton: "Kosmas und Damian empfangen die Gabe der Heilung", griechische Ikone, 1977. Kosmas und Damian sind die Schutzheiligen der Ärzte und Apotheker und damit auch von mir. - Die Tönisvorster Autorin (Lyrikerin) Marianne Junghans, mit der ich 1977 den lyrischen Dialog "Aus den Gebirgen der Schwermut" publiziert hatte, schenkte mir die Ikone Ostern 1978. Jahrzehnte hängt sie nunmehr in meinem Wohnraum und im Blickwinkel meines Ruhesessels. Mögen alle, die sie nunmehr hier im Internet sehen, österlich neuen Lebens-Mut gewinnen!  


 Jürgen Schwalm


Kosmas und Damian

Jeden Morgen
erblüht die Ikone,
auf die ich beim Erwachen schaue,
im Licht.

Kein Fenster wäre so klein,
dass der erste Sonnenstrahl
sie nicht treffen könnte.

Ein Augenblick Glanz -
und es gab keine Nacht!

Es ist gewiss:
Ich werde geheilt sein.

 

 

 

 

Freitag, 22. März 2024

Palmarum

 

Palmarum 1942 wurde bei dem verheerenden Luftangriff auf Lübeck die Marienkirche zerstört. Im September 1948 prägte die Hamburger Münze aus dem Metall geborstener Glocken der Lübecker Marienkirche insgesamt 4250 Gedenkplaketten zum Herstellungspreis
von 10.- Mark, die zugunsten des Wiederaufbaus und des Erhalts der Marienkirche im Inland für 50.- Mark angeboten wurden; aus den USA war der Vorschlag gekommen, sie für 50
Dollar / Stück zu verkaufen.


Meine in Lübeck geborene Großmutter Erna Dragendorff, geb. Hoyer, war eine der ersten, die die Plakette erwarb. Sie wohnte zwar seit Jahrzehnten nicht mehr in Lübeck, fühlte sich aber nach wie vor zutiefst mit ihrer Heimat- stadt verbunden. Ich erinnere mich noch an
ein Telefonat, das ich in Berlin mithörte, als
sie meine Mutter nach dem Angriff anrief
und empört von den Zerstörungen berichtete.
Als meine Mutter sich daraufhin über die
immer häufigeren Fliegerangriffe auf Berlin
beschwerte und auf unsere eigene unsichere
und gefährliche Situation hinwies, wurde mir
als damals zehnjähriger Junge erstmals in
voller Intensität die Gefahr bewusst, den
Krieg in der „Reichshauptstadt Berlin“
überleben zu müssen.

Die Gedenkplakette kam nach dem Tod meiner Großmutter in meinen Besitz.


Jürgen Schwalm
 
 
 
 

Freitag, 15. März 2024

Alfred Kerr


Jürgen Schwalm: Alfred Kerr, Collage, 2024; verwendet wurden dafür Zeichnungen, die Moritz Koschel (großes Bild) und Oskar Kokoschka von dem Kritiker schufen. Sie liegen auf den Seiten mit den Ausführungen über Kerr in der Literaturgeschichte von Soergel / Hohoff "Dichtung und Dichter der Zeit", 1964

 



Man stirbt einen Tod und weiß nicht welchen,

vielleicht ein schmuckes Schlaganfällchen.

An diesen Ausspruch von

 

Alfred Kerr

wurde ich kürzlich erinnert, als ich wegen des Verdachtes, einen Schlaganfall erlitten zu haben, in eine Klinik eingewiesen wurde.

Alfred Kerr, 1867 in Breslau geboren, hieß eigentlich Alfred Kempner, war aber- entgegen einigen Vermutungen der damaligen Zeit- nicht der Neffe der als „Schlesischer Schwan“ belächelten Dichterin Friederike Kempner.

 Der Sohn reicher jüdischer Eltern studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik in Berlin und promovierte 1894 in Halle zum Dr. phil. mit einer Dissertation über Clemens Brentano.

Kerr war in Berlin einer der einflussreichsten deutschen Kritiker in der Zeit vom Naturalismus bis 1933. Er schrieb für den „Tag“, das „Berliner Tageblatt“ und die „Frankfurter Zeitung“ und war vor dem 1. Weltkrieg Mitherausgeber und auch Herausgeber der Kunst- und Literatur-Zeitschrift „Pan“.

Kerr floh 1933 nach Prag, dann nach Zürich und Paris und 1935 nach London. 1947 wurde er britischer Staatsbürger. Ab 1945 arbeitete er für die deutschen Tageszeitungen „Die Welt“ und „Die Neue Zeitung“ und lebte schließlich in Hamburg. 1948 erlitt Kerr während einer Hamburger Theateraufführung einen Apoplex und wählte daraufhin den Freitod durch eine Überdosis Schlaftabletten. Begraben wurde er auf dem Ohlsdorfer Friedhof.

Kerr verfasste seine Kritiken in einem eigenen Stil und sehr eigenwilliger Schreibweise; sie wurden auch als „literarische Stenogramme“ bezeichnet. Er sah in der Kritik eine eigene Kunstform und bevorzugte dabei eine treffende, geistreich-ironische und oft absichtlich saloppe Schreibart. Er war parteiisch, hatte aber einen unfehlbaren Instinkt für das Gute und Gelungene und scheute sich nicht, das Schlechte und Misslungene vernichtend abzustrafen.

Typische Beispiele. Über eine Opernsängerin urteilte er: „Es soll auch Fräulein X. gesungen haben. Gehört habe ich sie nicht.“ Ein Erstlingswerk rezensierte er mit einem Satz: „Wacker, wacker, kleiner Kacker“.

Jürgen Schwalm

 

 

 


 

 

Freitag, 8. März 2024

Der weiße Zauber - Annette Kolb und John Ford

Annette Kolb, Fotografie um 1950; Bildsammlung Schwalm

 

Jürgen Schwalm

1913 veröffentlichte die Schriftstellerin Annette Kolb (1870-1967) im Fischer-Verlag ihren ersten Roman „Das Exemplar“. Wie in allen Romanen Annette Kolbs sind auch in diesem autobiografische Motive verarbeitet. „Das Exemplar“ ist nämlich John Ford, Legationssekretär der englischen Botschaft, mit dem Annette Kolb in München und Paris häufig zusammengetroffen war und mit dem sie bis zu seinem Tod im Jahre 1917 korrespondierte. Über ihre Freundschaft mit John Ford schrieb sie:

Zwischen uns herrschte ein weißer Zauber. Ja, wir schritten als eine unauflösliche Einheit voran, unsichtbare Vereinigung im Takt der Gesetze der Musik. Für mich war dieser Gleichklang Entspannung und Erholung, ein Vergessen meiner selbst, des ganz besonderen Problems meiner Existenz, des eifersüchtig gehüteten Geheimnisses ihres Ziels, ihres einsamen, im Verborgenen wachsenden Ernstes, ihres unglücklichen Strebens.

(siehe: Jürgen Schwalm: „Ich musste es auf meine Weise sagen“ – Annette Kolb – Leben und Werk, 2006)

 

Jürgen Schwalm

 

Der weiße Zauber

Annette Kolb und John Ford

 

München im Sturm und Faschingstrubel.

In dieser Gesellschaft hält beide nichts.

Sie ruft ihm zu. „Ich gehe“.

Da sagt er rasch: „Ich folge nach“.

 

Ich gehe und ich folge nach:

Das ist die Melodie,

die zwischen ihnen ihren Bogen spannt,

sie aus allen Unzulänglichkeiten aufwärts zieht

in die klare Freiheit der Berge:

 Der weiße Zauber ihrer Gipfel

ist mit dem Silberstift 

in die Bläue des Himmels gezeichnet.

 

Es bleibt beim Gruß dorthin.

Denn nach dem steilen Aufwärtsschwung

schaukelt der Tag sie ins Tal.

 

Dort wartet in die Alm gebettet

altersgebeizt und geduldig

hinter wandgestapelten Holzscheiten

das Haus,

das nach den beiden Ausschau hält.

 

Dort kehren sie ein

im Gleichklang der Schritte

Schulter an Schulter

und stolz und gemeinsam einsam,

wo der Abend ihnen

ein vergängliches Wunder gewährt.

 

Denn draußen erblühen trotz Eis und Frost

 aus dem braunem Gebälk des Hauses

plötzlich dunkelrot die Geranien,

Blutflora leuchtet im Schnee:

 

Das Winterwunder eines Augenblicks.

Für einen Wimpernschlag das grenzenlose Staunen.    

 

 

 

 

 

 

 


 

Freitag, 1. März 2024

Die Schlange im Paradies

Kläre Goldbach: Adam und Eva im Paradies, Holzschnitt, undatiert; Geschenk von Eva Schwieger-von Alten für Jürgen Schwalm

 

Jürgen Schwalm


Die Schlange im Paradies

Die Schlange im Paradies lockt immer wieder mit süßer Frucht, deren Genuss sündhafte Wonnen verspricht. Doch sitzt der Wurm im Apfel. Der Biss in solches Obst hat Konsequenzen. Deshalb lernt jede kluge Eva schnell, Adam ihre eigenen Äpfel anzubieten. Sie kommen ihrem Adam freilich meist nicht so verführerisch vor wie die paradiesischen Früchte. Deshalb zerteilt Eva ihre Äpfel häppchenweise und streut noch tüchtig Zucker darüber. Damit füttert sie ihren Adam zur Mitternacht.
Und siehe da: Adam wird mit dieser Speise sehr zufrieden sein, seineEva loben und die Schlange im Paradies – wenigstens während des Essens – vergessen.

(aus: Wort und Bild und Kunst und Leben)

 

 

 

 

Freitag, 23. Februar 2024

Der zu nackte Akt

Jürgen Schwalm: "Die glückliche Entbindung", Collage, 2014

 

Jürgen Schwalm


Der zu nackte Akt

Es ist vertrackt,

dass mancher Akt,

gerade dann, wenn mit Takt

und in keinem Detail abgeschmackt

jeder Fakt

exakt

auf die Leinwand gebackt

wurde,

uns nicht packt.

Der Grund ist schnell ausgeschnackt:

Der abgebildete Akt

Ist uns einfach zu nackt. 





Freitag, 16. Februar 2024

Les enfants du paradis VI - X

Heinrich Schwieger-Uelzen: Schulhof, Öl, 1930. Abbildung in: Jürgen Schwalm, Heinrich Schwieger-Uelzen, Eva Schwieger-von Alten: "Schwingen", 1984

 

Jürgen Schwalm


LES ENFANTS DU PARADIS VI-X
 

VI

Welche Kinderei

dein Bild abzuschlecken

wie eine Katze.

In allen Fotoalben stellte ich dir nach,

schnitt ich dich aus,

hing dich in meinem Kleiderschrank auf 

neben den Konfirmationsanzug

und der ersten Sonntags-Krawatte.


VII

In der letzten Schulstunde

hatte ich deinen Namen

mit dem Taschenmesser

in mein Pult geritzt,

hatte mit meiner Nosferatu-Pranke

dein Herz gepfählt

und hinterm Schild der Bücher

noch im Unterricht

deinen Hals zerbissen

und dein Blut getrunken.


VIII

Das Treffen nach der Schule

musste geheim bleiben.

Schwör mir‘ s

Ich schwör‘ s.

Du weißt dass die Meineid-Hand verdorrt.

Meine Tribute für deine harte Faust:

Ein blaues Glas

dunkler als der Himmel

eine rote Muschel

ferner als das Meer.

Du schenktest mir nichts.

Aber ein Siegel blieb auf meiner Stirn,

das nie mehr abzuwaschen war.


IX

Als Goldregen über Steinmauern fiel

und die Wasser die Gärten

in den Himmel hängten,

stieg dein Spiegelbild aus dem Grund.

Du trugst das Visier deiner Jugend.

Die steilen Knospen waren erigiert.

Die verbotenen Wege verengten sich

zu hohen Fontänen.


X

Wir spielten unsere Träumerei

durch beide Tongeschlechter

vierhändig verschränkt

und achteten anfangs darauf,

dass wir uns dabei nicht berührten,

aber wenn es doch geschah,

durchzuckte uns ein elektrischer Schlag.

Dann ergab es sich,

dass wir uns über klingende Leitern hinweg

Finger zu Finger ertasteten,

und die Akkorde mussten

in langen Pausen

auf eine Auflösung warten,

die nie erfolgte.

 


 

 

 

 

 

 

 

Den Zyklus LES ENFANTS DU PARADIS widmete ich, wie in der letzten Woche ausgeführt, ARLETTY. Das Autogramm-Foto befindet sich in meinem Archiv. 

 

 

 

 

 


Samstag, 10. Februar 2024

Les enfants du paradis I - V

Eva Schwieger-von Alten: Eins-Zwei-Drei / Die Rechenmaschine, Collage, 1927, Abbildung aus: Jürgen Schwalm, Heinrich Schwieger-Uelzen, Eva Schwieger-von Alten: "Schwingen", 1984


 

Jürgen Schwalm

LES ENFANTS DU PARADIS I-V

 

I

Un deux trois

ein Abzählreim

an die Schwarte der Litfaßsäule geschlagen

un deux trois

auf grauen Pflastersteinen

 Kreidequadrate

gehüpft wie gesprungen

Stiefel Halbschuh oder Sandale

hinke pinke

Pfütze links

Gully rechts

Grätsche blind

un deux trois

 Erde Himmel Aus

 

II

Deine Fußspitzen waren

beim Laufen oder Beine-Baumeln

immer ein wenig einwärts gerichtet.

Du trugst rutschende Söckchen

mit großen Löchern.

Durch deine Unterschrift Ingeborg

wurde mein Poesiealbum zum Heiligtum.

Ich schrieb mich auch bei dir

zwischen Oblaten und gepresste Blüten

mit einem Fettfleck fürs Leben ein.

 

III

Mein Späh-Auge war wachsam,

 wenn ich unterm Zelt der Bettdecke

 im Taschenlampenschein

zum weiten Nachtritt ausgezogen war,

um ferne Länder neu zu erforschen.

Dann waren in den Canons

Licht und Schatten

scharf ausgeschnitten,

stand der Mond auf Glanzpapier,

und beim Wenden der Seiten

knisterten die Lagerfeuer.

 

IV

Deine Sprödigkeit

die mich so entzückte.

So keusch

konnte nur der Sonntag sein

vor der Messe,

mit Zuckerwasser im Haar

und süßen Löckchen,

einer Hostie zum Frühstück

 und einem Halleluja für eine Vogelstimme.

 

 

V

Hoch stand ich auf dem Olymp des Theaters

in den schönen Tagen von Aranjuez

mit scheuerndem Kragen.

Unten aber die Königin

 trug zarte Spitzen am Hals

pflückte mit geschminkter Hand

aus grüner Kulisse einen Granatapfel

 und reichte ihn mir

über alle Ränge hinweg

 hinauf ins Paradies.

 

Teil II des Zyklus folgt in der nächsten Woche. – Der Titel LES ENFANTS DU PARADIS wurde durch den gleichnamigen Film angeregt, der 1943-1945  unter der Regie von Marcel Carné nach einem Drehbuch von Jacques Prévert produziert wurde und ein herausragendes Beispiel des poetischen Realismus in Frankreich ist. Ich veröffentlichte den Zyklus das erste Mal 1984 und schickte ihn der wunderbaren französischen Schauspielerin Arletty (1898-1992), die nach ihrem eigenen Urteil in diesem Film die schönste Rolle (als Garance) ihres Lebens erhielt. Obgleich mein Gedichtzyklus, in dem kindliche und pubertäre Gefühlsäußerungen aufgearbeitet werden, nichts mit dem Inhalt des Filmes zu tun hat, war Arletty sehr berührt, und es ergab sich daraus eine aufschlussreiche Korrespondenz, die bis zum Tod der Darstellerin fortgesetzt werden konnte.   

 

 

 

 

 

 

 

Freitag, 2. Februar 2024

Rezension im Bremer Jahrbuch 2023

Theodor Schwalm, Selbstbildnis, Öl auf Malpappe, 1924; Besitzer: Jürgen Schwalm

 

Arthur Fitger, Fotografie aus dem Jahr 1895; Archiv: Jürgen Schwalm

 

 

Jürgen Schwalm: Arthur Fitger und Theodor Schwalm, Dokumente einer
Künstlerfreundschaft in Bremen, Seemann Publishing, 2022

Rezension im Bremer Jahrbuch 2023 ( Auszüge):


Zu den lobenswerten Ausnahmen zählt ohne Frage das neueste Buch von Jürgen Schwalm über die Künstlerfreundschaft zwischen Arthur Fitger (1840-1909) und Theodor Schwalm (1870-1940). Es handelt sich um ein Doppelporträt zweier Kunstschaffender, die von der Kunstgeschichte bislang wenig beachtet wurden, in den Sphären zwischen Malerei und Rivalität, menschlich berührender Freundschaft und gegenseitig motivierenden Inspirationen im Reich der Bildenden Künste…Jürgen Schwalm, ein promovierter Hautarzt, auch bekannt als Lübecker Schriftsteller, behandelt das Thema intensiv und tiefgründig in Gestalt einer Dokumentensammlung… Schon in der Vorbemerkung gelingt es Jürgen Schwalm, auf nur einer Seite das Leben seines Großvaters vom mittellosen Jungen bis um geachteten Dekorations- und Kunstmaler und das Besondere dieser herzlichen Künstlerfreundschaft zu konzipieren. Der Verfasser zeigt die „sehr unterschiedlichen sozialen Verhältnisse von Theodor Schwalm und Arthur Fitger auf, die durch Fitgers Persönlichkeit immer wieder überbrückt wurden“. Der Mehrwert des Buches liegt in der Auswahl und Vielfalt der Themen für diese Freundschaftserzählung…Um das Archivmaterial des Buches zu kontextaktualisieren und der Leserschaft die historischen Zusammenhänge zu vermitteln, nutzt der Autor vorbildlich die starke Aussagekraft der Dokumente selbst. Jürgen Schwalm lässt in längeren, vortrefflich ausgewählten Zitaten die beteiligten Künstler, ihre Familienangehörigen und Freunde erzählen…Der Arzt und Schriftsteller Schwalm bringt eine stattliche Masse an historischem Quellenmaterial, sachlichen Zusammenhängen und biografischen Tatsachen in eine plausible und erkenntnisträchtige Struktur. Schwalms Buch
zeigt zwei Künstler und ihr soziales Umfeld sowie ihre gegenseitige Beeinflussung und geht über übliche Dokumentensammlungen hinaus. Es gibt einmalig tiefe Einblicke in die Gedanken- und die Gefühlswelten sowie in einen inspirierenden schöpferischen Dialog zweier Bildender Künstler. Schwalms Publikation gibt einen wichtigen Anstoß für die weitere Aufarbeitung von Künstlerfreundschaften, ihre Perspektive kann möglicherweise zur Grundlage für weitere historische Forschungen werden, sie ist ein einzigartiges Zeugnis einer redlichen Freundschaft zwischen zwei kreativen Geistern und eines beiderseits gewinnbringenden Austausches. Obendrein lesenswert im Stil.

Jürgen Tremper