Sonntag, 30. Juli 2017

Zeilen über mich





Lassen wir das Pendel weit schwingen zum Schmerz und zur Freude, auf den Bögen, die es unterm Weinen und Lachen ausschaukelt, kehrt es immer wieder zurück zum unveräußerlichen ICH. – Aber es gibt sie, die Sternstunde der Resonanz. Und weil das ICH doch nie die Hoffnung verliert, das DU zum Mitschwingen zu bringen, werde ich nie aufhören, zu DIR zu sprechen, an DICH zu schreiben. Denn wir ersehnen, solange wir leben, die Erfüllung unseres Traums, erhoffen uns aus dem Nebeneinander das Zueinander, das Miteinander -, und wenn auch nur für Augenblicke.

Jürgen Schwalm in „Zeilen über mich“ (1977)



Sonntag, 23. Juli 2017

Sommerlicher Park


Jürgen Schwalm: “Ein Sommertag im Park”, Fotostudie, 2016



Jürgen Schwalm

Sommerlicher Park

Die Schattenbarrieren sind aufgehoben
und die Wege freigegeben
zur Kurgast-Promenade.
Libellen-Zickzack über dem Teich.
Schwäne in der Entengrütze.
Amsel-Gezeter.
Das Rasen-Tuch ist ausgespannt und frisch geschoren.
Lammfromm sind auch die Hunde
und angeleint manierlich getätschelt.
Rentner schwingen die Stöcke und die Beine.
Das Kurkonzert beginnt.
Anna sitzt in der ersten Reihe,
damit sie den Pianisten sehen kann.
Sie trägt das Blütenkleid vom letzten Sommer
und schickt ihre flatternden Gedanken
zu den Blättern der Platanen,
deren Rindenhaut jedes Jahr weiter platzt.
Auch Annas Runzeln lassen sich kaum mehr glätten.
Deshalb weiß sie nicht,
ob sie sich wünschen sollte,
als Mammut-Baum alt zu werden,
zu dessen Krone sie den Hals verrenkt.
Wie jung ist doch der Pianist!
Er lässt Chopin wie Champagner perlen.
Heute Abend gönn ich mir ein Gläschen Sekt,
beschließt Anna,
doch nur eins.
Chopin zieht ein Lächeln über alle Tränen.
Aber die Luft wird schon wieder kühler. 



Samstag, 15. Juli 2017

St. Marien zu Lübeck


Lübeck von Westen, Vorkriegsaufnahme von Wilhelm Castelli (1901-1984). - Medaille: Rettet St. Marien zu Lübeck (Vorder- und Rückseite). Die Medaillen wurden 1948 aus dem Metall der Glocken zu St. Marien geprägt und für den Wiederaufbau von St. Marien verkauft (s. DIE ZEIT Nr. 29 vom 15. 7. 1948). Das abgebildete Exemplar erwarb meine aus Lübeck stammende Großmutter Erna Dragendorff.


Jürgen Schwalm 

St. Marien zu Lübeck

Jahrhundertelang
fuhr das Kirchenschiff sonnenwärts,
glitt durch Windwirbel und Wettergischt,
rauschten die Turmmasten
durch die Wolkenbrandung.

In einer Schreckensnacht
heulten Feuerbrände auf,
zerfraßen das Gebälk,
schrien die Glocken sich im Sturz zu Tode,
brach der Himmel in den Raum ein.

Trümmerjahre.

Die Asche verwehte.
Pfeiler feierten Wiederbegegnungsfeste,
als das Zelt des Gewölbes sich nochmals schloss,
die Türme wieder die Sturmsegel hissten
und den Aufbruch wagten
in eine neue Zeit.
 
                                                                       
(geschrieben 1977)






Samstag, 8. Juli 2017

Siesta

Jürgen Schwalm: “Wenn die Violine spielt, applaudieren die Rosen”, Foto, 2017


Jürgen Schwalm

Siesta

Mein Lieblingsstrauch
hält mich versteckt
Er beugt sich über mich
Aber seine Trompetenblüten
müssen mittags schweigen
Auch ich habe Pause
in der Gartenpartitur
hänge zwischen den Noten
in der Rankenschwebe
Erst viel später
dirigieren die Blätter wieder
blasen die Blüten
sich im Eifer abermals rot auf
und ich stürze
frisch im Takt
und con brio
durch die Zweige
mitten in der Ouvertüre
dem Nachmittag auf die Pauke

(aus: Scherzo am Lago Maggiore) 



Samstag, 1. Juli 2017

Im Freudenlicht


Jürgen Schwalm: “Organische Strukturen”, Hinterglasmalerei, 2006



Jürgen Schwalm

Im Freudenlicht

Nicht DAZU und DARUM
einfach nur DASEIN
und Reflexe über den Spiegel flickern lassen

Keine Gedankenketten in Fallgruben

Kein Durst in gelb schnarrendem Neid

Fragen
WOHER und WOZU
von gesternheutemorgen ungelöst lassen

WOZU noch DAZU

DA
nur Ruhe im Freudenlicht
SEIN


(in: Aus Nimmermehr ein Immermehr, 1977)