Samstag, 10. Februar 2024

Les enfants du paradis I - V

Eva Schwieger-von Alten: Eins-Zwei-Drei / Die Rechenmaschine, Collage, 1927, Abbildung aus: Jürgen Schwalm, Heinrich Schwieger-Uelzen, Eva Schwieger-von Alten: "Schwingen", 1984


 

Jürgen Schwalm

LES ENFANTS DU PARADIS I-V

 

I

Un deux trois

ein Abzählreim

an die Schwarte der Litfaßsäule geschlagen

un deux trois

auf grauen Pflastersteinen

 Kreidequadrate

gehüpft wie gesprungen

Stiefel Halbschuh oder Sandale

hinke pinke

Pfütze links

Gully rechts

Grätsche blind

un deux trois

 Erde Himmel Aus

 

II

Deine Fußspitzen waren

beim Laufen oder Beine-Baumeln

immer ein wenig einwärts gerichtet.

Du trugst rutschende Söckchen

mit großen Löchern.

Durch deine Unterschrift Ingeborg

wurde mein Poesiealbum zum Heiligtum.

Ich schrieb mich auch bei dir

zwischen Oblaten und gepresste Blüten

mit einem Fettfleck fürs Leben ein.

 

III

Mein Späh-Auge war wachsam,

 wenn ich unterm Zelt der Bettdecke

 im Taschenlampenschein

zum weiten Nachtritt ausgezogen war,

um ferne Länder neu zu erforschen.

Dann waren in den Canons

Licht und Schatten

scharf ausgeschnitten,

stand der Mond auf Glanzpapier,

und beim Wenden der Seiten

knisterten die Lagerfeuer.

 

IV

Deine Sprödigkeit

die mich so entzückte.

So keusch

konnte nur der Sonntag sein

vor der Messe,

mit Zuckerwasser im Haar

und süßen Löckchen,

einer Hostie zum Frühstück

 und einem Halleluja für eine Vogelstimme.

 

 

V

Hoch stand ich auf dem Olymp des Theaters

in den schönen Tagen von Aranjuez

mit scheuerndem Kragen.

Unten aber die Königin

 trug zarte Spitzen am Hals

pflückte mit geschminkter Hand

aus grüner Kulisse einen Granatapfel

 und reichte ihn mir

über alle Ränge hinweg

 hinauf ins Paradies.

 

Teil II des Zyklus folgt in der nächsten Woche. – Der Titel LES ENFANTS DU PARADIS wurde durch den gleichnamigen Film angeregt, der 1943-1945  unter der Regie von Marcel Carné nach einem Drehbuch von Jacques Prévert produziert wurde und ein herausragendes Beispiel des poetischen Realismus in Frankreich ist. Ich veröffentlichte den Zyklus das erste Mal 1984 und schickte ihn der wunderbaren französischen Schauspielerin Arletty (1898-1992), die nach ihrem eigenen Urteil in diesem Film die schönste Rolle (als Garance) ihres Lebens erhielt. Obgleich mein Gedichtzyklus, in dem kindliche und pubertäre Gefühlsäußerungen aufgearbeitet werden, nichts mit dem Inhalt des Filmes zu tun hat, war Arletty sehr berührt, und es ergab sich daraus eine aufschlussreiche Korrespondenz, die bis zum Tod der Darstellerin fortgesetzt werden konnte.   

 

 

 

 

 

 

 

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