Freitag, 20. Juni 2025

Rosita Serrano

Das schwarze Herz der Mohnblüte, Foto: Jürgen Schwalm

 Rosita Serrano 

Auch in diesem Jahr blühte unbeirrt der rote Mohn. Ach, die Metaphern vom Mohn in Märchen, Sagen, Geschichten und Gedichten: Mohntraumrot sind die Traumschläge zwischen den Lidschlägen; das Glück verblüht wie der Mohn; Schlaf-Mohn; Traum-Mohn; roten Mohn trugst du in deinem Haar, als wir Abschied nahmen; die Schnittermädchen des Himmels streuen Mohnblüten aus, wenn der Tod naht.

Der getuschte Nolde-Mohn: Ein Bauerngarten, in dem der Mohn nicht gezähmt wird, sondern seine rote Klage in den schweren Himmel schreien darf. Gelb fällt der Giftregen der Zeit, aber eine Blüte zündet die
Götterdämmerung.

Mein Großvater hat vor neunzig Jahren das Bild einer norddeutschen Landschaft gemalt: Unter einem tief herabgezogenen Himmel wiegen sich Kornfelder im Wind, vor denen Mohnfackeln flackern. Ich bewun-derte das Bild schon als Kind.

Maikäfer flieg, es war einmal ein Krieg, und mein Vater war längst im Krieg, und es war einmal ein Wunschkonzert, und Pommernland war noch nicht abgebrannt. Da saß ich vor dem Radio und hörte einer jungen Künstlerin zu, die ein Lied sang vom Mohn. Meine Schwestern tadelten ihre schwache und kleine Stimme. Aber die Stimme muss doch voll Zauber gewesen sein, denn während sie mich zärtlich berührte, konnte ich am reifenden Kornfeld auf Großvaters Bild entlanglaufen und durfte die Töne des Liedes als leuchtende Blüten pflücken. 

Schließlich hielt ich einen Strauß in der Hand, Blütenklänge, rot wie Blut. Blüten verwelken. Aber Lieder können überdauern.

Unser Haus versank in Schutt und Asche. Doch ich grub meine Erinnerungen aus den Trümmern und wusch den Staub auch von meinem kleinen Lied. Ich lasse es auch heute noch ab und an erklingen. Dann bin ich wieder der Junge, der die mohnroten Blüten seiner frühen Tage einsammelt, die eine junge Künstlerin einst über sein Kornfeld streute: Rosita Serrano und ihr roter Mohn.

Sie kam aus einem Land, so fern wie der Mond, das Chile hieß, und man nannte sie die chilenische Nachtigall, und deswegen konnte sie sich, während sie sang, in eine Lerche verwandeln, die über den tiefblauen Himmel des großväterlichen Bildes flog, und ich erfuhr von der Lerche, die eigentlich eine Nachtigall war, dass eines Tages auch auf Großvaters Bild das Korn gemäht und die Mohnblumen geköpft werden würden:

Roter Mohn,
warum welkst du denn schon,
wie mein Herz sollst du glüh‘n
und feurig loh‘n ...

Es war einmal eine Zeit, in der ich noch wenig wusste und doch schon so viel ahnte, in der meine Sehnsüchte wuchsen und sich gestalten wollten.

Da sang eine junge Künstlerin, die Rosita Serrano hieß, ihr kleines Lied vom roten Mohn, und der Junge war sich sicher, dass sie es eigentlich nur für ihn sang.

Ein Kind fragt nicht nach dem Wert oder Unwert der Dinge; es hat keine Skrupel, sich das Baumaterial für seine Träume überall zusammenzusuchen; es spielt mit Glasscherben wie mit Edelsteinen; entscheidend ist die Verheißung im bunten Gefunkel. Es sieht in allem ein Geheimnis, ein Abenteuer, ein Versprechen. Es hält sich für unsterblich. Es verachtet die Vernunft und die Realität und könntedeswegen den Erwachsenen zeigen, wie man überlebt.

Jürgen Schwalm

 

 

 

 

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