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Eva Schwieger-von Alten: Exlibris für Jürgen Schwalm, 1980 |
Jürgen Schwalm: "Das Einhorn
und das Keinhorn", Collage,
2014
Jürgen Schwalm
Die Geschichte vom Einhorn
(Fortsetzung)
mit besten Grüßen zum Jahreswechsel
Vielleicht liest es in meinen Büchern aber auch den Unfug, mit denen fromme Gelehrte seine wahre Berufung vertuschen wollten. Die zeigte es doch einst ganz unverhüllt und nackt in seinem Attribut, dem Horn. Mit dem konnte das Tier zustoßen und die letzten Schleier zerreißen, um mit aufgestellten Ohren und geblähten Nüstern zu beobachten, wie das Opfer im Lustschrei den kleinen Tod erlitt. Nachher hingen Blutbeeren an seinem Horn, und der Verlust, den das Opfer erlitten hatte, war nicht wieder rückgängig zu machen.
Die eindeutigen Absichten des Einhornes wurden in den Kirchenscharteken kaschiert, als der Weihrauch der Marien-Symbolikaufwölkte.
Es stimmte doch allein, dass der Kopf des Einhorns mit seiner Waffe in den Schoß auch dieser Jungfrau drängte. Alles andere wurde verbrämte Anekdote, zweckbestimmt umgedeutet, wobei Christus schließlich wieder aus dem Spiel genommen wurde. Die Erotik des Einhorns musste von der christlichen Kirche aus der Welt geschafft werden. Schließlich durfte das von Maria gezähmte Tier der Himmelkönigin nur noch wie ein Schoßhund die Pfote reichen. Ein derart bekehrtes, entschärftes, harmloses Einhorn durfte das Volk behalten, die dem Tier zuvor so gerne auflauern wollten in finsteren Wäldern und dunklen Verstecken. Aber da sie es nie hatten finden und erlegen können, war die Jagd schließlich nicht mehr lustig und man gab sie ganz auf. Es ging ja auch nicht mehr um das stolze und wilde Einhorn von einst.
Die Kraft seines Attributes übernahmen fortan andere Geschöpfe, die sich viel skandalöser austobten. Das Einhorn zog sich leider nicht in die nach ihm benannte Höhle in Herzberg am Harz zurück, wo verträumte Touristen noch immer vergeblich nach seinen Relikten suchen. Es verkroch sich schließlich für immer in harmlose Kindermärchen und in die Stopfwolle von Plüschtieren.
(aus: Jürgen Schwalm: Wort und Bild und Kunst und Leben, Seemann-Verlag 2021)
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