Mittwoch, 4. Oktober 2023

Roter Faden gebunden

 

Allen Freundinnen und Freunden, die mir bei der Überwindung meiner schweren Erkrankung und Operation mit Rat und Tat hilfreich zur Seite standen, möchte ich auch an dieser Stelle herzlich danken. Übrigens bleibe ich  weiterhin meiner Einstellung treu, die da lautet:

 

Ich habe mich immer nur deswegen mit der Vergangenheit beschäftigt, um Wege in die Zukunft zu finden. Es ging mir nie um die Erforschung von "Grabkammern unter plappernden Sphinxen", sondern darum, das Leben begreifen zu können, wenn ich letztlich auch immer an dieser Aufgabe scheiterte. Es ging mir nie um den Tod, sondern immer um das Leben. Deshalb wurde ich auch Arzt.

 

 

 

 

Märchenerzählerin. Stahlstich von Heinrich Burkhart Lödel (1798-1861), Holzschneider, Kupferstecher, aus: "Kinder- und Hausmärchen", gesammelt durch die Brüder Grimm. Zweiter Band. Große Ausgabe. Siebente Auflage. Göttingen. Verlag der Dieterichschen Buchhandlung. 1857.  

 

 

Jürgen Schwalm


Roter Faden gebunden


Märchen verlegen die Handlung in eine unbestimmte Vergangenheit. In einer
Sammlung von 90 Märchen aus aller Welt beginnen 40 mit dem Zauberschlüssel, der
alle Paradiesespforten öffnet, nämlich mit ES WAR EINMAL (once upon a time there
was; il ètait une fois).
Es ist aber auch reizvoll, anderen Eingangsformeln zu lauschen, mit denen
Märchenbotschaften eröffnet werden: Es lebte einmal, niemand weiß mehr, wann es
gewesen ist...Vor langen, langen Jahren... Es ist schon lange, sehr lange her...Es
sind nun schon viele Jahre verflossen...Vor langer Zeit...Vor vielen Jahren...Es lebte
einst ...Vor Zeiten...Einst in alten Zeiten...-

Zu dem griechischen Märchen DER BARTLOSE werden wir auf besonders originelle
Art begrüßt und eingeladen: Roter Faden gebunden, um die Spule gewunden, gib ihr
den Stoß, dass sie sich drehe, und das Märchen vor sich gehe, und der Abend schön
vergehe. - Guten Abend von hinten bis vorn, mit allen drinnen und draußen…

Meist bleibt nicht nur die Zeit unbestimmt, sondern auch der Ort: Ein Schloss liegt
südlicher als Süden, nördlicher als Norden…

Zweifel an der Märchenhandlung äußert der Erzähler nur selten, und wenn derart
ketzerische Gedanken überhaupt auftauchen, werden sie sofort wieder
verabschiedet: Es war, es war nicht, aber was gibt es Besseres als Gott, also: es war
einmal...
Es war einmal, vielleicht war es auch nicht, aber meine Großmutter sagte: Es war
einmal...

Was aber unbestimmt ist, bleibt nie gebunden, auch nicht an die Vergangenheit. Da
raunt ein kluges Märchen: Wenn das so war, so war es oft und kommt auch wieder
vor...
Und in einem französischen Märchen heißt es: Es war einmal, es wird eines
Tages sein: und das ist von allen Märchen der Anfang. Es gibt kein Wenn und kein
Vielleicht; der Dreifuß hat unbestreitbar drei Füße...

Da wird uns als Gewissheit versprochen, dass sich Märchenwunder jederzeit wieder
ereignen können. Wer an Märchen glaubt, verliert nie die Hoffnung.
Märchen sollen vorgelesen, besser noch: nacherzählt und gehört werden. Es geht
um das Sprechen und nicht um das Selber-Lesen:
„Uns ist in alten maeren / wunders viel geseit (gesagt) / von heleden lorebaeren /
von grōzer arebeit / von freuden, hōchgeziten / von weinen und von klagen / von
kuener recken strĩten / muget ir nu wunder hoeren sagen“, beginnt das
Nibelungenlied. Es soll wie das überlieferte Märchen raunen, klingen und singen,
also Musik werden. Es geht um die Verzauberung durch die Interpretation:
Großmutter erzählt Märchen in der Abendstunde vorm Schlafengehen und die Kinder
lauschen.

Wer Märchen beschwört, muss magische Mittel einsetzen. Mit Formulierungen, die
den Intellekt wach kitzeln, sind derartige Wirkungen nicht zu erreichen. Deshalb
bedient sich das Volksmärchen einfacher Versatzstücke, schlichter Kulissen, die
immer wieder, wenn auch unterschiedlich kombiniert, verwendet werden können.
Magische Effekte erzielen die Wortwiederholungen, die in Formeln auslaufen, zu
Paternoster- Singsang und prosa-lyrischen Passagen, die in Reimereien verrinnen,
oft nur in kindlich plapperndem Wortsalat nach Art der Abzählsprüche, selten in
simplen Schlussfolgerungen oder Vergleichen vorzugsweise aus ländlich –
bäuerlichem Bereich, wie: Freude hier – Leid dort - Mehl hier - Kleie dort. 

Auch mit Zahlenzauber wird behext. Häufig ist es die Drei, diese christliche und
weltliche Trinität: Es waren einmal drei Brüder, drei Schwestern; drei Fragen müssen
beantwortet, drei Prüfungen bestanden werden. Oft ist es auch die Sieben: Sieben
Berge, sieben Zwerge.

Das Volksmärchen zeigt Konstellationen in Holzschnitt-Technik, es kennt nur Gut
und Böse, weiß noch nichts von psychologischen Motivationen. Ihm liegt nichts
daran, Hintergründe zu analysieren. Mit dem Intellekt kann animalischer Trost nicht
gewährt werden. Es geht im Märchen aber immer darum, dass das Gute am Schluss
siegt. Der Märchenschluss hat stets Neuanfang zu sein für eine bessere Existenz, im
Märchen Glück genannt.


(aus: Jürgen Schwalm: Wort und Bild und Kunst und Leben, Einfälle zu Vorfällen,
Seemann Publishing, 2021)

 

 

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