Jürgen
Schwalm: “Die Zähmung des Einhorns”, Collage
(unter Verwendung eines Fotos des
sogen. Malterer-Teppichs,
Anfang 14. Jh., Freiburg/Brsg), 2018
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Jürgen Schwalm
Die Geschichte
vom Einhorn
vom Einhorn
Das Einhorn lebte schon in der
Antike. An der Grenze zur Neuzeit zog sich das Tier zurück. Künstlern begegnet
es manchmal noch in ihren Träumen, wie es meiner Freundin, der Malerin Eva,
geschah. Sie wollte zeichnen, was sie sah: Ein schneeweißes Wesen mit einem
Pferdekopf und gelockter Silbermähne. Allerdings huschte das Tier so schnell
vorbei, dass sie allein einige zarte Umrisslinien skizzieren konnte. Nachher
war sie nicht mehr sicher: Vielleicht war es doch nur ein Schimmel gewesen.
Aber Eva ergänzte in ihrer
Zeichnung die Stirn des Pferdekopfes mit einem gedrehten Narwal-Horn, das sie
in einem verstaubten Apothekenfundus entdeckt hatte; und da sie damit schon im
medizinischen Bereich angekommen war, wand sie gleich noch eine Äskulapnatter
um den langen spitzen Stirnfortsatz. Derart restauriert sprang das Einhorn, auf
Exlibris-Blättchen vervielfältigt, in die Buchdeckel meiner ärztlichen und
belletristischen Bibliothek, wo es nun mit großen dunklen Augen, in denen alle
Geheimnisse abgrundtief versinken, meine Lektüre schmückt.
Ursprünglich zeigte das Tier seine
Absichten ganz offen mit seinem Attribut, dem Horn, mit dem das Tier zustieß.
Nachher hingen Blutbeeren an seiner Waffe, und der Verlust, den das Opfer erlitten
hatte, war nicht wieder rückgängig zu machen.
Einst drängte das Einhorns mit
seiner Waffe auch in den Schoß der allerheiligsten Jungfrau Maria. Die
eindeutigen Absichten des Einhorns mussten von der christlichen Kirche aus der
Welt geschafft werden. Schließlich durfte das von Maria gezähmte Tier der
Himmelkönigin nur noch wie ein Schoßhund die Pfote reichen.
Das derart bekehrte und
entschärfte Einhorn überließ man dann den Jägern. Die hatten dem Tier zuvor so
gerne aufgelauert in finsteren Wäldern und dunklen Verstecken. Aber da sie es
nie hatten finden und erlegen können, war die Jagd schließlich nicht mehr
lustig und man gab sie ganz auf. Es ging
ja auch nicht mehr um das stolze und wilde Einhorn von einst.
Die Kraft seines Attributes übernahmen
fortan andere Geschöpfe, die sich viel skandalöser austobten. Das Einhorn zog
sich leider nicht in die nach ihm benannte Höhle in Herzberg am Harz zurück, wo
Touristen vergeblich nach seinen Relikten suchen. Es verkroch sich schließlich
für immer in harmlose Kindermärchen und in die Stopfwolle von Plüschtieren.
(aus: Der Lebens-Baum,
Betrachtungen)
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