Samstag, 17. Februar 2018

Die Geschichte vom Einhorn

Jürgen Schwalm: “Die Zähmung des Einhorns”, Collage 
(unter Verwendung eines Fotos des sogen. Malterer-Teppichs, 
Anfang 14. Jh., Freiburg/Brsg), 2018

Jürgen Schwalm


Die Geschichte
vom Einhorn
 
Das Einhorn lebte schon in der Antike. An der Grenze zur Neuzeit zog sich das Tier zurück. Künstlern begegnet es manchmal noch in ihren Träumen, wie es meiner Freundin, der Malerin Eva, geschah. Sie wollte zeichnen, was sie sah: Ein schneeweißes Wesen mit einem Pferdekopf und gelockter Silbermähne. Allerdings huschte das Tier so schnell vorbei, dass sie allein einige zarte Umrisslinien skizzieren konnte. Nachher war sie nicht mehr sicher: Vielleicht war es doch nur ein Schimmel gewesen.
Aber Eva ergänzte in ihrer Zeichnung die Stirn des Pferdekopfes mit einem gedrehten Narwal-Horn, das sie in einem verstaubten Apothekenfundus entdeckt hatte; und da sie damit schon im medizinischen Bereich angekommen war, wand sie gleich noch eine Äskulapnatter um den langen spitzen Stirnfortsatz. Derart restauriert sprang das Einhorn, auf Exlibris-Blättchen vervielfältigt, in die Buchdeckel meiner ärztlichen und belletristischen Bibliothek, wo es nun mit großen dunklen Augen, in denen alle Geheimnisse abgrundtief versinken, meine Lektüre schmückt.
Ursprünglich zeigte das Tier seine Absichten ganz offen mit seinem Attribut, dem Horn, mit dem das Tier zustieß. Nachher hingen Blutbeeren an seiner Waffe, und der Verlust, den das Opfer erlitten hatte, war nicht wieder rückgängig zu machen.
Einst drängte das Einhorns mit seiner Waffe auch in den Schoß der allerheiligsten Jungfrau Maria. Die eindeutigen Absichten des Einhorns mussten von der christlichen Kirche aus der Welt geschafft werden. Schließlich durfte das von Maria gezähmte Tier der Himmelkönigin nur noch wie ein Schoßhund die Pfote reichen.  
Das derart bekehrte und entschärfte Einhorn überließ man dann den Jägern. Die hatten dem Tier zuvor so gerne aufgelauert in finsteren Wäldern und dunklen Verstecken. Aber da sie es nie hatten finden und erlegen können, war die Jagd schließlich nicht mehr lustig und man gab sie ganz auf.  Es ging ja auch nicht mehr um das stolze und wilde Einhorn von einst.
Die Kraft seines Attributes übernahmen fortan andere Geschöpfe, die sich viel skandalöser austobten. Das Einhorn zog sich leider nicht in die nach ihm benannte Höhle in Herzberg am Harz zurück, wo Touristen vergeblich nach seinen Relikten suchen. Es verkroch sich schließlich für immer in harmlose Kindermärchen und in die Stopfwolle von Plüschtieren.

(aus: Der Lebens-Baum, Betrachtungen)



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