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"Jürgen Schwalm: “Dieser Engel mausert sich”, Assemblage, 2016" | | |
Jürgen Schwalm
Das Mirakel
Als ein Engel beim Tedeum
mit den Flügeln schlug, verlor er eine bunte Feder. Hochwürden entdeckte sie
vorm Altar. Er rief: „O Wunder über Wunder!“ und schickte sie nach Rom zum
Heiligen Vater.
Hochwürden
war längst alt und grau, und zwei Päpste waren mittlerweile verschieden, als er
endlich Antwortpost vom Vatikan erhielt. Der Brief war lang, wie sich denken
lässt. Hochwürden benötigte viel Zeit, um ihn zu lesen.
Die
Schlusssentenz des Briefes lautete: „Es steht fest, dass Engel sich nicht
mausern können. Infolgedessen kann die zugesandte Feder weder ein Engel der
unteren Rangstufe verloren haben noch ein Seraph oder Cherub aus der oberen
Hierarchie der himmlischen Heerscharen. – Die Feder stammt vielmehr von einem
Paradiesvogel.“
Hochwürden
aber dachte: „Ei, sieh da! Selbst wenn mein Engel aus kirchlicher Sicht nur ein
Vogel gewesen sein soll, so kam er doch aus Himmelshöhen vom Paradies
herabgeflogen; hieße er sonst wohl Paradiesvogel?“
Mit
dieser Auslegung konnte der Vorgang beim Tedeum für Hochwürden ein himmlisches
Mirakel bleiben. Unsere oberen Seelenrichter gönnen uns eben die Wunder nicht,
die wir sehen, und sie erkennen die wahren Engel unter den Menschen nie.
(aus: Der Lebens-Baum, Betrachtungen, 2005)