Freitag, 14. April 2023

Der Püsterich

Der Püst(e)rich im Naturalien- und Kuriositätenkabinett von Schloss Sondershausen / Thüringen. - Nachzeichnung einer Publikation aus den 1930ger Jahren, also aus der Entstehungszeit des Romans "Der Herr Kortüm" von Kurt Kluge.
 

Kurt Kluges (1886-1940) erstmals 1938 erschienener Roman „Der Herr Kortüm“ gehört seit Jahrzehnten zu meiner Lieblingslektüre; er hatte diesen Rang aber auch schon für meine Eltern.

Es ist nicht zu viel gesagt, wenn wir die wenigen von Kurt Kluge hinterlassenen Prosawerke dem unvergänglichen Besitz deutscher Dichtung zurechnen, an der Spitze den umfänglichen Roman „Der Herr Kortüm“. Diese Geschichte des schrullig-weisheitsvollen Hamburger Kapitäns, der – ein Nachfahr der Don Quijote und Eulenspiegel- auf einem Thüringer Berge ein Gasthaus gründet, erweist Kluge als einen Meister deutschen Humors (Zitat aus „Christ und Welt“ auf der Umschlagklappe der Volksausgabe von 1958).

Der Herr Kortüm ist bald, nachdem ihn sein Dichter erschaffen, zu einer Art legendärer Gestalt geworden. Denn dieser Mensch voll Weisheit und Tiefsinn…wird jedem unvergesslich sein und bleiben, der ihm nur einmal begegnet, der nur einmal seinem Leben, Denken und Handeln nachgegangen ist. Dieser Gastwirt, von wenigen begriffen, von vielen getadelt und doch von allen genützt, ist ein „Gleichnis des schöpferischen Menschen, der nur hindurchgeht durchs Leben: Leben schaffend – ohne selbst genießend besitzen zu dürfen, was er geschaffen“; „“ = Zitat Kurt Kluge (Umschlagklappe 1958).

Zum hundertsten Geburtstag von Kurt Kluge schrieb Rainer Drewes 1986 u.a.: Kluges wichtigste Werke sind zweifellos die Romane „Der Herr Kortüm(1938) und „Die Zaubergeige“ (1940). Beide Bücher…überschreiten in den Kriegs- und Nachkriegsjahren die Halbmillionengrenze.  Wie lässt sich dieser Erfolg erklären? Offenbar verkörperten die Hauptfiguren, der runde, kauzige Gastwirt Kortüm oder der arme, ganz in seiner Kunst aufgehende Geiger Andreas, gerade im III. Reich für viele Leser im In- und Ausland das „gute“, das „andere“ Deutschland. In die Sparte Nischenliteratur, die ihre Funktion in Trost und Ablenkung von der bitteren Realität hat, würden wir heute einen Großteil des Kluge’schen Oeuvres einordnen. Für ihn selbst stand immer das Formen des Erlebten im Vordergrund. Nichts deutet in seinen Briefen und Tagebuchnotizen darauf hin, dass er sich in irgendeiner Weise politisch engagierte…So bleibt sein Werk…für viele Interpretationsversuche offen. Sie reichen von einer scharfen Verurteilung der kritiklosen Anpassung an das Regime bis zu einem heimlichen „Zwischen-den-Zeilen“-Widerstand , wobei sich interessanterweise in der DDR die letztere Ansicht durchzusetzen scheint, die Kluge der bürgerlich-humanistischen Erzähltradition zuweist .. Sein 100. Geburtstag könnte ein Anlass sein, diesen fast vergessenen Dichter wieder neu zu entdecken. Es würde eine Lesereise in ein „unbegrenztes“ Vergnügen sein.

Kluge wurde bei der Gestaltung seines Kortüm durch die Biografie des Gastwirts Alexander Hermann Sigmund Wörner inspiriert, der 1896 nach Elgersburg (Ilm-Kreis / Thüringen) gezogen war und dort 1906 das Schöffenhaus errichtete, das er mit seiner Frau bewirtschaftete.

Auch der Püsterich, der auf Kortüms Grundstück ausgegraben und dort zur Destillation und später als Wasserspender eingesetzt wird, hat eine reale Vorlage, nämlich den 57 cm hohen bronzenen Püstrich von Sondershausen, der in den 1540er Jahren in den Ruinen der Rothenburg auf dem Kyffhäuser gefunden wurde. Püsteriche sind die erstmals von Heron von Alexandria (gest. nach 62) als Aeolipile (Heronsbälle) beschriebenen Wärmekraftmaschinen, die bis zur Erfindung der Dampfmaschine keinen praktischen Nutzwert erhielten, sondern lediglich physikalischen Unterhaltungswert hatten. Man ist immer wieder erstaunt, feststellen zu müssen, dass grundsätzliche wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfindungen über viele Jahrhunderte vergessen wurden oder dass ihre Weiterentwicklung und praktische Nutzanwendung unterblieb. Vom Heronsball bis zur Dampfmaschine, die das industrielle Zeitalter begründete, vergingen immerhin zweitausend Jahre.   

                                                                                     

Jürgen Schwalm

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