Freitag, 25. April 2025

Götterdämmerung

Im Frühsommer 1943 wurden wir von Berlin nach Schloss Rosenau bei Zwettl/Waldviertel evakuiert. Dort erlebten wir 1944/45 das Kriegende. Darüber berichtete ich in meinen Erinnerungen „Rückblenden/Frühe Jahre“ u.a.:

Götterdämmerung

Helle Flammen scheinen in dem Saale der Götter
aufzuschlagen. Als die Götter von den Flammen
gänzlich verhüllt sind, fällt der Vorhang.
Regieanweisung von Richard Wagner


In diesem Winter vor der Götterdämmerung sah ich oft in den Sternenhimmel. Flugzeuge kreuzten hier zwar nicht auf wie in Berlin. Aber kannten die Sterne wirklich noch ihre Bahnen? Sie blinkten jedenfalls schon viel kälter. 
Alle Sonnen bekamen Flecken, besonders die am höchsten dekorierten. Sonnenflecken lassen sich nicht mit Sidol wegpolieren wie Schmutz von Uniformknöpfen. 
In diesem Winter gab es immer mehr Uniformierte, die ganze Welt war schließlich uniformiert. Und nachts fingen uniformierte Katzen die Mäuse ein, die sich verkriechenwollten.
 
Die Internate von Krems und Zwettl wurden Ende März 1945 geschlossen. Und wir Kinder kamen zu unserer Mutter nach Schloss Rosenau bei Zwettl. 
Im Schloss zog Militär ein; es war ein Gewimmel dort wie in einem Bienenstock. 
Das Waldviertel lag zwischen der Ost- und der Westfront, und beide Fronten rückten kaum noch aufgehalten näher. Nachts erzitterten manchmal schon die Schlossfenster vom Donner der Geschütze.
Es war nur eine Frage der Zeit, wer uns eher überrollen würde, die Ostfront oder die Westfront. Und die Russen waren schließlich schneller. 
Wir konnten buchstäblich in letzter Minute von Rosenau „in Richtung Westen“ fliehen, als die Russen schon in Zwettl einfielen. In der Panik fallen alle Schranken. 
Schon vor unserer Abfahrt aus Rosenau waren Ortsansässige in unsere Wohnung eingedrungen und hatten (nach der Parole: Wir nehmen uns, was wir kriegen, die kommen ohnehin nie mehr wieder!) rigoros geplündert. 
 
Ein Chronist nimmt sich das Recht, den Ereignissen vorzugreifem.
Die Russen eroberten das Schloss, zerhackten das Parkett und die Einrichtung der einstigen Repräsentationsräume bei Wodka-seligen Siegesfeiern, zündelten und entfachten solangemit dem barockem Mobiliar Freudenfeuer, bis die Fensterscheiben in der Hitze zerplatzten. Baron L. verkroch sich, verschanzte sich, wurde doch gefasst, inhaftiert, irgendwann freigelassen.

Erst nach der Besatzungszeit kam das Schloss wieder in seinen Besitz. Es war aber so heruntergekommen, dass er es 1964 der Siedlungsgemeinschaft des Landes Niederösterreich überließ. Die Schlossanlage

wurde vollständig restauriert und ist seit 1974 ein luxuriöses Schlosshotel mit einem Restaurant für „gehobene Ansprüche“, das seine Vorzüge mit prachtvollen Bildern im Internet vermarktet.
Auch Schlösser haben ihre Schicksale, und manchmal führt ihre Demolage sogar zu einer glücklichen Auferstehung.

Mai 1945. Es gibt Ereignisse, deren Echo sich nie verliert. Annette Kolb, die aus dem Vaterland Vertriebene, hat diese Formulierung gefunden. Entsetzen kann sprachlos machen. Dann verdichten sich die Ereignisse zu explosiven Kommandos. Ungefähr dreißig Personen wollten mit uns westwärts fliehen. Nur nicht in die Klauen der Russen geraten. Eher bringen wir uns um.
Landser hatten zwei Wehrmachtsbusse „organisiert und umlackiert“. Sie standen bereit. Auch die Fahrer, zwei „erfahrene“ Soldaten in Zivil.

7. Mai 1945. 
Später Nachmittag.
Unsere Mutter hatte uns Kinder im ersten Bus untergebracht.
Es saßen schon vier Männer darin.
Sie selber fuhr im zweiten Bus, dessen Abfahrt sich verzögerte.
Schnell wurde ein Treffpunkt vereinbart.
Darauf einzugehen war ein Fehler, für den meine Mutter aber in dieser Situation nicht verantwortlich gemacht werden darf.
Wir fuhren also ohne unsere Mutter los.
In den Abend, in die Nacht.
Der Fahrer stellte das Autoradio an.
Keine Musik mehr.
Nur noch Ansagen, schnarrende Reportagen, Satzfetzen, Fadings. Bedingungslose
Kapitulation um Mitternacht.
Demarkationslinien.
Wo sind wir? Schon auf der richtigen Seite?
Der Fahrer, der bisher sehr nett und freundlich zu uns war, änderte plötzlich sein Verhalten.
Der Motor sei defekt, brummte er.
Er könne nicht weiterfahren.
Wir sollten aussteigen und zu Fuß ins nächste Dorf laufen.
Dort würden wir auf den Bus mit unserer Mutter treffen.
Ganz bestimmt.
Verlasst euch auf das, was ich euch sage! –
Wir glaubten aber gar nichts mehr.
Seit dieser Nacht wollten wir keinem mehr vertrauen.
Meine Schwester Renate fragte: „ Warum laufen wir denn nicht alle zusammen dorthin?“
„Nee“, sagte der Fahrer brutal. „Wir hauen uns hier in die Büsche, meine Kameraden undich. Wir tauchen hier ab. Wenn wir geschnappt werden, sind wir dran. - Ihr seid Kinder. Euch
kann nichts passieren!“.
Die Männer ließen uns aussteigen und warfen unser Gepäck auf die Straße.
Wir drei Großen mussten jeweils einen Koffer und einen Rucksack tragen, auch meinem
Bruder Dirk wurde ein kleiner Rucksack auf den Rücken geschnallt.
Pechschwarz war die Nacht, totenstill, ausgesternt, kalt.
Wir stolperten die Straße entlang und wagten zunächst nicht, uns umzudrehen. Nach fünf
Minuten blickten wir zurück. Der Bus war nicht mehr zu sehen.
Kein Auto kam uns entgegen oder fuhr an uns vorbei.
Wir liefen bis zum Morgen, schleppten uns mit letzter Kraft in ein Dorf, entzifferten im ersten
Morgenlicht ein Schild: Es war der vereinbarte Ort!
War das Zufall? Es gibt keine Zufälle, es gibt nur Schicksale.
Ich hatte es an jenem Morgen gelernt.
Wir schlurften bis zum Kirchplatz, warfen dort das Gepäck auf den Wiesenstreifen am
Straßenrand und entleerten ohne Scham unsere Blasen.
Es war uns jetzt alles egal.
Die Kirchenglocken schlugen an,
Einwohner kamen an uns vorbei, glotzten uns an und eilten zum Kirchenportal.
Da stand ein Sarg. Jemand war gestorben und sollte noch so schnell wie möglich unter die
Erde gebracht werden.
Das gab uns den Rest. Uns war, als würden wir selber begraben.
Minuten vergingen. Zwei Stunden.
Wir wollten unseren Augen nicht trauen, als plötzlich der zweite Bus mit meiner Mutter aus
dem Nichts auftauchte.
Wir winkten wie Verrückte.
Der Bus bremste scharf und stand.
Meine Mutter riss die Tür auf. Strahlte. Wir weinten, wir lachten. Lagen uns in den Armen.
Wollten nur noch fort, nur noch weiter.

Es waren nun mit uns 23 Personen im Bus, Kinder und Erwachsene. Mütter wie meine Mutter. Das verbindet. Da halten die Mütter zusammen. Und meine Mutter übernahm die Führung, die Organisation der weiteren Fahrt. Eine moderne Odyssee.
Die Erinnerung ist ein Zeitraffer.
Statt der Landschaftsbilder, die an uns vorüberzogen, aber in der Aufregung nicht zu fangen waren, flogen Ortsschilder vorbei, eine Litanei der Namen: Deggendorf, Plattling, Bogen, Wörth, Falkenstein, Schwandorf, Weiden, Kulmbach, Bamberg, Heldburg, Römhild, Hildburghausen, Meiningen, Schmalkalden, Eisenach, Eschwege.
Wir versuchten, die Namen auf der einzigen Wehrmachts-Karte, die uns zur Verfügung stand, wiederzufinden. Eine Gea-Übersichtskarte, 1: 2 000 000 mit dem Aufdruck: „Karten sind knapp -- bei Quartierwechsel mitnehmen.“
Stichwort: Quartierwechsel.
Wo finden wir ein Quartier für die nächste Nacht?
Wir mieden die Hauptstraßen, um den Militärkontrollen auszuweichen.
Fuhren abenteuerliche Nebenwege über die Dörfer. Da konnte der Bus unauffälliger abgestellt werden; er durfte ja nicht beschlagnahmt werden.
Jeder war sich selbst am nächsten, nahm sich, was er brauchen konnte. Der Bus musste bei Nacht bewacht werden, sonst konnte er am Morgen weg sein.
Wir schliefen bei Bauern in der Scheune. Wühlten uns im Stroh ein; die Sterne blinkten ungerührt durch löcherige Dächer. Wir hörten die Pferde in den Ställen stampfen, Schafeblöken.
Ich dachte an die Weihnachtsgeschichte. Maria und Joseph. Nur unser Joseph war nicht
dabei. Wo mochte er jetzt sein?
Unsere Mutter war eine Maria, die vier Kinder versorgen musste.
Und die sich verantwortlich fühlte für die Heimatlosen unserer Schicksalsgemeinschaft. Die
verloren allzu oft und zu schnell den Kopf.
Wir erschnorrten bei Bauern das Essen.
Viele ließen sich das gut bezahlen, wenn auch keiner wusste, was das Geld in dieser Zeit überhaupt noch wert war.
Oft wurden wir abgewiesen. 23 Personen, und dann noch die vielen Kinder dabei, das war
den meisten zu viel.
Verteilt euch doch auf mehrere Höfe, hieß es. Und: Es geht wirklich nur für eine Nacht. Und wenn wir euch unterbringen, ist das doch in Risiko für uns. Wer weiß, was für Nazis ihr gewesen seid. Ob die Männer, die ihr mitschleppt, nicht doch als Kriegsverbrecher gesucht werden, SS-Angehörige waren?
Mein Herz klopfte.
Ich wusste ja, dass drei Männer dabei waren, die vor der Flucht ihre Orden und Uniformen
vergraben hatten.
Merkwürdig, dass mich meine Ängste nicht auch noch in den Träumen jagten. Ich schlief
jede Nacht wie ein Sack, taumelte durch die Tage.
Unser Treibstoff wurde knapp, die mitgeführten Kanister leerten sich.
Wir mussten ein Ziel finden.
Mutter ließ abstimmen.
Die Mehrheit wollte nach Niedersachsen.
Dort wollte man sich trennen. Und so geschah es auch.
Es gab nur kurze schmerzlose Abschiede. Jedem blieben die eigenen Sorgen.
Mutter hatte einige Wochen vor unserer Flucht aus Rosenau einen Brief von Herrn Dr.
Gerhard Jungmann erhalten. Jungmann war ein alter Freund meines Vaters und praktischer

Arzt in Markoldendorf, Kreis Einbeck.
Mutter konnte unseren Fahrer überreden, den Versuch zu machen, Markoldendorf zu erreichen. 
Es gelang ihm mit dem Rest der letzten Tankfüllung.
Auf dem Hof des Bauern F. blieb der Bus stehen.
 
Es war ein wunderbar sonniger Tag im Mai 1945.
An Markoldendorf war der Krieg vorbeigezogen.

Ich hatte nichts dagegen, dass der Tag so strahlte.
Ich ahnte zum ersten Mal in meinem Leben: So fühlt sich der Frieden an.
Weich und warm.
Was die Zukunft und das Schicksal uns auch bringen würde, ich war frei und bereit.
Wach war ich im Jetzt und Hier.
Bereit war ich zu neuem Beginn.
Ich wagte den Anfang.

 

 Abb.1 Jürgen Schwalm (links) mit seinem dreijährigen Bruder Dirk 1943 
m Park von Schloss Rosenau. Foto: Renate Schwalm
 Abb. 2 Schloss Rosenau bei Zwettl /nach dem Anschluss Österreichs: Niederdonau. 
Die Familie Schwalm wohnte 1943-1945 im Obergeschoss des Schlosses rechts.
 
 
 
 
 

 

 

 

 

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