Von Knaggen und Triforien
Der maßlose Anspruch der gotischen Kathedral-Kunst, das Himmlische Jerusalem auf Erden zu errichten, musste wie alle derartigen Visionen scheitern. Das ist die Perspektive jedes menschlichen Strebens: der große Gedanke kämpft mit den irdischen Unzulänglichkeiten und zieht den Kürzeren. Dennoch bewundern wir gerade in der Gotik dasVollendete im Unvollendeten.
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Zur Gotik passt das strenge Maßwerk der Bauhütten-Hierarchie, die bizarre Nomenklatur der Aufrisse mit den Fialen, Wimpergen, Triforien, Dinsten und Knaggen. Lotrecht ist das Linienwerk aller heiligen Entwürfe. Dass die Linien schließlich doch spitzwinklig aufeinanderstoßen müssen, wenn auch in höchster Höhe, ist nur ein Kompromiss.Trost spendet ausgerechnet eine mathematische Regel: Parallelen treffen sich erst im Unendlichen, also im Himmel.
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Der verzückte Glaube der Gotik lässt den Leib des Menschen nur noch Gefäß der Seele sein. Gewandfalten ersetzen den Körper; aber die Gesichter der Statuen spiegeln die Himmels-Sehnsucht. Genauso verhält es sich mit der Architektur. Das Mauerwerk bricht auf. Der Leib der Kirche ist nur noch Gefäß für das Licht. In den Farben der zwölf Edelsteine der apokalyptischen Himmelsstadt durchdringt es den Raum.
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(aus: Wort und Bild und Kunst und Leben)
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