Jürgen Schwalm: Wünsche in Blau, Hinterglastechnik
Jürgen Schwalm
Der Weg zu uns
Alle Mythen sind unsterblich
und wiederholen sich in unserem Leben.
Liebe Irene, ich schreibe an Dich und für Dich. Nimm die Botschaft als Schwur und Vermächtnis. Ich könnte zu Dir sprechen, denn Du sitzt ja ganz dicht bei mir in Deinem bequemen Sessel und liest. Du hältst den Kopf gesenkt, eine Haarlocke fällt in Deine Stirn, Du pustest sie zurück. Du legst das Buch aus der Hand, streifst die Schuhe ab und ziehst die Beine hoch, rollst dich ein wie eine Katze. Katzengleich unbeirrt zogst Du immer Deine Spur, wer Dich dabei stören wollte, musste damit rechnen, Deine schmerzhaften Krallen zu spüren. Du fixiertest eigene Ziele, die durchaus wechseln konnten. Aber Dein unberechenbarer plötzlicher Widerstand war es gerade, der mir gefallen konnte, der mich immer wieder aufgefordert hat, Deine Wege zu kreuzen und ihnen wenigstens streckenweise zu folgen.
Also: Ich könnte mich jetzt Dir zuwenden und mit Dir reden, aber das gesprochene Wort ist zu flüchtig und zu vergänglich für das, was es festzuhalten gilt für unser kurzes Leben vor unserem langen Tod, die Erinnerung nämlich an jenen griechischen Sommer auf Zakynthos, an unseren Sommer, der uns wieder zusammenführte nach allen Deinen Fluchten und nach allen meinen Irrfahrten, die sich zu einer Odyssee gereiht hatten. Der Norden war stets nur meine zweite Heimat gewesen. Die südlichen Küsten waren mir näher. Griechenland war von jeher die Heimat meiner Seele, meines Herzens, Urheimat schon vor meiner Geburt, Stammheimat. Dort entdeckte ich in meinem eigenen kleinen Schicksal die Last, aber auch die unbändige Kraft der großen Überlieferungen. Dort war ich schon immer gewesen in allen Träumen, die entscheidender sind als die Wirklichkeit. Vor den griechischen Küsten lag mein Anker, er hing an einer reißfesten Kette, die zu den tiefsten Geheimnissen führte.
Du wusstest davon, Irene, Du hattest es längst erkannt. Du hast mich von jeher erkannt, deshalb hast Du mich immer wieder frei gegeben. Als alles zu zerbrechen drohte, warst Du so klug, noch einen Versuch zu wagen vorm endgültigen Absprung. Eine gemeinsame Reise vor den nächsten Entschlüssen.
Und das Wunder geschah: Es gab einen Neuanfang für uns beide. Wir segelten nach Zakynthos.
*
„Der Weg zu uns“ hieß der Schlager, der in jenem Sommer aus allen griechischen Tavernen quoll und die heißen Tage eroberte und die bunt schillernden Nächte. Sirupsüß haftete er in den sonnengebleichten Haaren, auf der Haut, auf der Zunge. Helena trug ihn über alle Lautsprecher vor, sie ließ keinen Anlass aus, Helena, der Shootingstar aus Zakynthos mit ihrer tiefen rauen Samtstimme. Aus finsteren Kneipen war sie aufgestiegen, sie war aus dem Nebel der Nikotinschwaden und über Wein- und Bierpfützen in ihren heftig auflodernden, aber kurzlebigen Ruhm gestoßen worden. Über Land und Meer raunte Helena damals die Zauberworte unseres südlichen Sommers: „Der Weg zu uns“. Eine Hexe war sie, eine Circe; sie konnte Männer in Schweine verwandeln und Frauen zum Weinen bringen, ungeschoren ließ sie keinen; sie drängte sich allen Geschlechtern auf, den Männern, den Frauen und denen zwischen den Ufern.
Schlager können wirklich zuschlagen. Sie können Nägel ins Herz treiben, und der Verstand kann sie dann nicht mehr herausziehen; zurück bleibt ein blutendes Herz, vielleicht eine Narbe, vielleicht sogar eine lebenslängliche Tätowierung, die den Schaden für alle sichtbar macht. Der Liebe Freud, der Leiden lange Zeit. Im Schlager darf sich alles reinem, wenn es auch wehtut.
„Der Weg zu uns“ hieß das Lied dieses Sommers, und alle Sehnsucht der Welt beschwor die Melodie, die trunken war vom Licht der Tage, vom Wein der Nächte.
Ich hab’ dich geliebt.
Als du mich verlassen,
konnt’ ich nur noch hassen.
Du kehrtest zurück.
Was ist mir geblieben?
Ich kann nur noch lieben.
Was nützt es, klug zu sein, wenn eine Zauberstimme die eigene Sehnsucht weckt? Ich will es nie mehr leugnen, dass meine Sehnsucht und mein Heimweh letztlich immer Deinen Namen trugen, Irene. Und in jenem Sommer ließ die Heimweh-Melodie alle Wünsche auferstehen. Ich war ja immer nur deswegen von Dir fortgegangen, um wieder zu Dir zurückkehren zu können. Wie fern ich Dir auch war, welche Abgründe auch zwischen uns lagen, alle Meere führten schließlich doch zu Dir zurück. Kam ich zurück, lag Salz auf meinen Lippen, der Bodensatz dunkler, vergeudeter Tage. Jedes Mal trat ich wieder hungrig und durstig wie ein Schiffbrüchiger reumütig bei Dir ein, damit Du meine Wunden kühlen konntest.
Und nun waren wir beide gestrandet an der griechischen Inselküste. Und Helena hatte ihr kleines Lied gesungen, sie sang es für die ganze Welt und sang es doch nur noch für Dich und mich.
Wir hörten es immer wieder in der Dionysos-Bar am Hafen, die Zuflucht wurde für uns zwei. Das Lied schlug bei uns auf und auf uns ein. Wie Odysseus war ich zurückgekehrt, war Dir wieder so nah wie einst; älter geworden, aber nicht gescheiter. Und Du hattest wie Penelope auf diesen Augenblick gewartet. Ich entdeckte Dich plötzlich neu; Du warst ja auch wirklich neu erstanden für mich.
„Denk nicht an gestern“, sagtest Du. „Graue Haare kann man färben. Lass uns tanzen gehen. Heute will ich auf dem Seil tanzen über dem Abgrund. Komm mit, heute werden wir nicht abstürzen, heute nicht!“ – Du sagtest: „Heute weiß ich, dass du wirklich wieder bei mir bist und zugleich in Deiner Heimat. Das ist Gnade, das ist die Gunst der Stunde. Wir sollten uns beide von ihr verführen lassen.“ –
Wie hörten das Heimweh-Lied, es folgte uns nach, als wir die Bar verließen und den Bootssteg betraten, und wir sahen zu, wie es vor Zakynthos im Meer schaukelte, wo anfangs noch die Sonne scheibchenweise auf den Wellen schwamm und später der Mond. Aber da trugst Du schon die rote Blüte im Haar und flüstertest mir ganz leise meinen Namen ins Ohr. Das war Deine zärtliche Gabe für unsere Wiedergeburt.
Zurück in der Dionysos-Bar, beim Abendessen, wollte ich Dir unbedingt das Lied schenken, das doch eigentlich für die ganze Welt bestimmt war, und Du nahmst meine Gabe an und trankst das Lied aus meinem Glas. Da wollte das Lied mit Dir tanzen und schlüpfte in Deine Schuhe, die hatten aber hohe Absätze, und so konnte es nicht so rasch, wie es wollte, mit Dir davonlaufen, und da rief ich voll Übermut: „Ich nehme euch beide auf meine Arme!“
Wir waren göttlich trunken, wir liefen hinaus in die Nacht. Unser Tanz auf dem Seil. Heute konnte das Seil nicht reißen. Wir schwankten märchenhaft vertraut am Kai, Du, die Melodie und ich, und der leichte Dunst, der über dem Wasser aufstieg, duftete wie Anis. „Das ist der Ouzo“, sagtest Du, „das ist unser nächtlicher Schutzheiliger, der auch nicht länger in seiner Kirche bleiben mag.“
Unseren Schutzheiligen hatten die Glocken verbimmelt und nun ging er bummeln. Er strich durch die kleine Stadt am Hafen und zündete an jeder schrägen Ecke seine Lampen an, die der Dunkelheit zu Kopfe stiegen. Da sprühten die silbernen Funken, im Wasser gespiegelt, ein launisches Feuerwerk! In dieser Nacht kamen wir dem Himmel so nah wie nie in taumelnder Lust. Das war die Nacht unserer Auferstehung.
*
Wir sind in den Norden zurückgekommen, wir sind nicht mehr in Griechenland.
Ich werde warten, bis Du aus Deinen Träumen erwachst, Irene, und Dir dann meine Hände auf die Schultern legen.
Was ist mir geblieben?
Ich kann nur noch lieben.
Schlager können wirklich zuschlagen.
Von den Freuden der Liebe hatte Helena gesungen und von ihrer Vergänglichkeit.
Der Liebe Freud währt nur für kurze Zeit.
Lieder können Nägel ins Herz treiben.
Und der Liebe Ewigkeiten? Soll ich Dich das jetzt noch fragen, Irene? Ich weiß ja doch, welche Antwort Du mir geben wirst. „Frag nicht nach“, wirst Du sagen, „damit es kein Ende mehr geben wird zwischen uns.“
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