J.J. Grandville: Illustration aus “Un Autre Monde”
(1844);
siehe auch die Eintragung vom 26.1.2019
Jürgen Schwalm
Kuss-Zeh
Unterm Zirkuszelt in der
Manege beglotzt das Publikum die schöne Kunstreiterin Miranda. Rundum geht es,
immer im Galopp. Die Peitsche des Herrn Direktors trifft nicht immer nur das
Pferd, sondern manchmal auch Miranda, die ihn dann höhnisch auslacht. Sie hat
kräftige weiße Zähne, die zubeißen können. In ihrem nächtlich schwarzen Haar
flattern die Bänder, blitzt der
Talmi-Schmuck. Ihre Füße wippen im Takt der Musik auf dem glänzenden Fell des
Pferdes. Jetzt tanzt sogar ihr rechter Großzeh Spitze, das steigert den
Applaus. Nach dem Auftritt wirft sie dem Herrn Direktor, der ihr in die
Garderobe folgen will, die Türe vor der Nase zu. Drinnen warten schon die
Verehrer, die ihr Rosen in den Ausschnitt stecken wollen, und sie erhält von
den parfümierten und pomadisierten Bartträgern nicht nur schmatzende Handküsse.
Denn beim Champagner, den der Herr Fabrikbesitzer schäumen lässt, zieht Miranda
die Strümpfe aus und ihre akrobatische Großzehe wird zum Kuss-Zeh. Sie streckt
ihn dem Herrn Fabrikbesitzer entgegen, der sich zuerst bedienen darf, zumal er
am Schluss ja auch das Souper bezahlen muss.
(aus:
Farbwechsel / Wortbilder, 1982)
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