Freitag, 28. Juni 2024

Die Sintflut

Das gefangene Einhorn, ein Teppich der Gobelin-Serie "Die Einhorn-Jagd", französisch / flämisch, um 1500, Metropolitan Museum New York,  Abbildung in Rüdiger Robert Beer: Einhorn - Fabelwelt und Wirklichkeit, Verlag Georg D.W. Callwey München 1972

 

Jürgen Schwalm

 

Die Sintflut

 

Als ich ein Kind war,

 zeichnete ich die Tiere

in der Arche Noah.

Ein Einhorn-Pärchen

war auch dabei;

 das rührte meine Großmutter

damals zu Tränen.

 

 Denn sie dachte an das Unglück,

das geschah,

als nach der Sintflut

die Wasserfluten wieder sanken:

 

Sowie sie das feste Land sahen,

sprangen nämlich die gierigen Raubtiere

sofort vom Schiff.

Das scheue Einhorn-Pärchen wollte fliehen,

aber die Raubtiere töteten es

und vernichteten damit

viele traulichen Märchen

 und einen großen Schatz der Fantasie.

 

(in: Aus Arm in Arm und Wort für Wort, 2020)

 

 

 

 

 

Freitag, 21. Juni 2024

Eine Berglegende

Heinrich Schwieger-Uelzen: Betender Bauer vor Kruzifix, Öl, 1927, reproduziert beim Gedicht "Eine Berg-Legende" in Jürgen Schwalm, Heinrich Schwieger-Uelzen, Eva Schwieger-von Alten: "Schwingen", Breit-Verlag, 1984

 

Jürgen Schwalm

 

Eine Berglegende

 

Vor dem Wald lagen die Wolken als Himmelbett für die Schafe und die Sonne schien aus Gottes rechtem Augenwinkel - Die Sommerwiese blühte ins Blau - Du rochst nach Honig und Klee - Es tropfte vom Eis der Firne - Von deinen Augen floss die Wasserschale über -Blaubeeren wuchsen zwischen deinen Fingern die Hänge hinab - Hexen strickten im Halbschatten Strümpfe für die Mücken aus Spinnweb - So waren alle deine Märchen

Als der Abend ging zur Ruh

Kam ein Fiedler hergezogen

Strich den harzbetränten Bogen

Deine Tiere hörten ganz verzaubert zu

Tratst du barfuß auch herzu

Bist im Liede aufgeflogen –

So waren alle deine Märchen - ohne alle Tücken - Sterne unschuldiger Kinder – Aber ich habe dir Wasser und Erde abgefordert als Zeichen deiner Übergabe – stach dir die Seitenwunde – da goss die Liebe aus – Um unsern Hals war nun der Kettenring gelegt der uns verschloss und unsre Haustür vor den Späherblicken – Ich fraß mich in die Wände unsres Hofes ein – Kein Wetter konnte mich dort mehr auswaschen – Du stelltest noch immer Blumen auf den Tisch – doch jetzt mit Thymian und Frauenmanteltee zum abgebrühten Seelenheil im Winkel – Altbackene Abendstunden in denen wir glücklich sein mussten – wir hatten keine Wahl – nur eine Last die krümmt – Es schärfte sich das Messer unserer Lieder – Ich sah den Tod im roten Hut aus Mohn – der fuhr bergan im Knochenschlitten – aber es war heiß - hatten meine Sorgen ein schwarzes Kreuz aus Eisen geschmiedet – das stand auf kargem Acker - und unsre Hände wurden Fichtenborke – Du wolltest mir noch einmal einen Tag heraufreichen – Eben hielten deine Hände noch den Holzkorb – nun sind sie so hilflos leer – nur noch Gebet aufgerichtet vorm Wald am steinigten Weg – auf dem ich das letzte Mal heimkehren werde – Vogel um im Nest zu sterben

Wenn der Abend geht zur Ruh

Kommt ein Fiedler hergezogen

Streicht den harzbetränten Bogen

Meine Tiere hören ganz verwundert zu

Tret ich barfuß auch herzu

Wird das Lied bald nicht mehr singen

Wird mein Herz wie Glas zerspringen –



(Der Text wurde in automatischer Schreibweise nach einem Traumbild verfasst: Ich sah auf einer nach Thymian duftenden Sommerwiese einen Schlitten; als ich näher kam, entdeckte ich mit Erschrecken, dass er aus zusammengebundenen Menschen (?) – Knochen bestand. – Der Text wurde erstmals veröffentlicht in: Jürgen Schwalm, Heinrich Schwieger-Uelzen, Eva Schwieger von Alten: Schwingen, Breit-Verlag 1984)

 

 

 

 

 


 

Freitag, 14. Juni 2024

Gezeiten

Jürgen Schwalm: "Der Mond über der Stadt", Hinterglastechnik mit Glasfarben, Stoffproben und Goldpapier, 2018

 

 

 

Jürgen Schwalm

Gezeiten


Manchmal lebe ich auf

und manchmal lebe ich ab,

und mein Mond

aus Freude und Trauer

schafft Ebbe und Flut.

 

 

 

 

Freitag, 7. Juni 2024

Lübeck






Besucher, denen ich Lübeck zeige, verwechseln oft die Wasserstraßen, die die Altstadt umgeben bzw. durchfließen. Die Altstadt war ursprünglich keine Insel, sondern hatte nördlich vor dem Burgtor eine feste Landanbindung. Diese wurde erst durch den Bau des Lübeck-Elbe-Kanals durchbrochen, der 1900 durch Kaiser Wilhelm II feierlich eröffnet wurde. Um dies zu veranschaulichen, zeige ich anbei ein Foto, das am Ende des 19.Jh. während der umfangreichen Erdarbeiten vor dem Burgtor gemacht wurde (Privatsammlung Otto Rohde). Durch die Landanbindung war Lübeck in früheren Jahrhunderten an nördlicher Seite am schwersten zu verteidigen; noch 1806 gelangten die napoleonischen Truppen durch das Burgtor und eroberten und besetzten Lübeck. Auf dem Plan von 1879 ist der ursprüngliche Wasserverlauf ebenfalls deutlich zu erkennen. 





Durch den Bau des Elbe-Lübeck- Kanals musste der Wasserweg der Wakenitz umgeleitet werden. Die Wakenitz ist der natürliche Abfluss des Ratzeburger Sees und verlässt den See bei Rothenhusen.  Beim Kanalbau wurde die Wakenitz in Lübeck durch einen Damm (Falkendamm) abgesperrt und u.a. durch den Düker, ein neun Meter tiefes Rohrsystem, unter dem Kanal hindurch über den Krähen- und Mühlenteich entwässert, und gelangt nun über die Wehranlagen am Mühlendamm in die Stadt -Trave (siehe: ADAC-Karte Lübeck).



Die Trave entspringt in Gießelrade (Kreis Ostholstein) zwischen Ahrensbök und Scharbeutz,  fließt durch den Wardersee nach Bad Segeberg, dann nach Bad Oldesloe und an Reinfeld vorbei, um schließlich bei Hamberge und Moisling nach Lübeck zu gelangen; sie mündet in Lübeck-Travemünde in die Ostsee.