Freitag, 25. Oktober 2024

Von Küssen und vom Küssen

Die beim Küssen mobilisierten Gesichtsmuskeln. Klapptafel in Friedrich Eduard Bilz (1842-1922): Das neue Naturheilverfahren, 100. Auflage, Leipzig, 1900. Foto aus einem Exemplar des Buches in der Bibliothek von Jürgen Schwalm     


 Von Küssen und vom Küssen / Das Buch der Küsse


Das Kuss-Thema war immer aktuell. In der „Lübecker Zeitung“ vom 19. Dezember 1849 annoncierte Ernst Willkomm, damaliger Redakteur der Zeitung, mit fetten Lettern sein Buch der Küsse. Der Termin war geschickt gewählt; Küsse werden gerne ausgetauscht unterm Weihnachtsbaum. Aber wem sollte das Buch geschenkt werden? Einer jungen Braut als erotische Gabe? Einem pubertierenden Jüngling? Einem Lustgreis? In der Anzeige wurden 33 verschiedene Kuss-Arten wie ein Süßwaren-Sortiment angeboten, und das auch noch in alphabetischer Reihenfolge. Wässert Ihnen nach diesem Hinweis schon der kussbereite Mund? Dann überfliegen Sie doch bitte sogleich folgende Kuss-Liste: Ahnungs-, Andachtskuss, Begeisterungskuss, Engels-, Erdenkuss, Freundeskuss, Geistes-, Glaubens-, Glückeskuss, Himmels-, Hoffnungskuss, Jugendkuss, Lebens-, Leidens-, Lenzes-, Lichtes-, Liebeskuss, Mädchen-, Mutterkuss, Sanges-, Schmerzes-, Segens-, Sehnsuchts-, Sonnen-, Sternenkuss, Todes-, Traumeskuss, Vater-, Versöhnungskuss, Wahnes-, Weihe-, Wunscheskuss, Zweifelskuss. 

Entweder rufen Sie jetzt: “Aufhören, aufhören!“ Oder Sie fragen: „Wo bleiben denn die Küsse unter den Buchstaben C,D,I,K,N,O,P,Q,R,U,X und Y?“ Oder Sie sagen: „Da fallen mir unter den Buchstaben ja ganz andere Kussarten ein!“ Wahrscheinlich sind Sie enttäuscht: Sie hätten herzlich gerne pikantere Varianten in der Liste entdeckt, nicht wahr? Geben Sie es doch zu: Die Liste hätte gerne unanständiger sein dürfen.


Lassen Sie mich ein Zitat anbringen: „Die Sitte des Küssens geht wahrscheinlich von der Vorstellung aus, dass bei der Berührung der Lippen oder Nasen ein Austausch der im Atem gedachten Hauchseelen stattfindet. Älter als der Lippenkuss ist allem Anschein nach der Nasen- oder Schnüffelkuss.“ – Wer hat sich das denn ausgedacht?, werden Sie fragen. – Nein, der Herr Willkomm war es diesmal nicht. Die Zeilen stehen auch nicht in einem Witzblatt, sondern im etymologischen Duden von 1989. Da sieht man’s mal wieder:

Alle Sachen,

die Spaß machen,

werden von Literaten

verbraten und verraten,

und die Wissenschaftler erbauen ihnen ein Logis

in einer -Logie (in diesem Falle in der Etymologie).

Aber was hat ein schöner Kuss denn eigentlich in den Wissenschaften verloren? Dass wir
über das Küssen reden müssen, das muss nicht sein. Doch eins muss sein:

WIR MÜSSEN KÜSSEN!


PS: Der Tag des Küssens ist übrigens der 6. Juli.

 

 

 

 

 

Freitag, 18. Oktober 2024

Daphne

Renée Sintenis (1888-1965): "Daphne", Bronze vergoldet, 1930, Behnhaus Lübeck. Foto: Johannes Grenda 1992

 

 

Jürgen Schwalm

 

Daphne

 

Schwellende Angst

hemmt den Fluchtweg –

Die Landschaft wird zur Arena

auf der sie keine Zuflucht findet

um sich zu verbergen –

Die Sonne wirft über Apoll

die Protuberanzen der Leidenschaften –

Aus dem Schwindel des Windkreisels

zündeln die Stacheln seiner Gier –

Über Daphnes Stirn

schwebt das Schwert des beschlossenen Urteils –

Schon strauchelt sie im Sturz

weil die Umklammerung wurzelt –

Wie der Schleier ihrer Haare

den kleinen Tod der sie erwartet fürchtet

gerinnt die Zeit –

Ihre Arme verholzen

zur Gitterwehr der Äste –

Die Lippe verborkt –

In Rinde verstockt die Klage

doch schon bereut das Laub




(Erstfassung in Jürgen Schwalm: Aus Nimmermehr ein Immermehr,
Verlag Th. Breit Marquartstein 1977.

Zur Mythologie: Daphne ist eine Tochter des Flussgottes Peneios in Thessalien. Als
Apollon Daphne vergewaltigen wollte, floh sie. Erschöpft flehte sie zu ihrem Vater,
dass er ihre den Apollon reizende Gestalt verändern möge. Sie wurde in einen
Lorbeerbaum verwandelt. Seither ist der Lorbeerbaum dem Apollon heilig.) 




Freitag, 11. Oktober 2024

Der Knauf-Kopf

Der Knauf-Kopf

Als ich durch Lauenburg an der Elbe schlenderte, bewunderte ich die alten, oft liebevoll restaurierten Fassaden der Häuser. Zu einer Haustür führte eine Treppe, deren Geländer mit einem Knauf endete, der wie ein Frauenkopf gestaltet war (s. Abbildung 1). Da fiel mir als Folge einer alchemistischen Gedankenreaktion sofort „Der goldene Topf“ von E. T. A. Hoffmann ein, das wohl schönste Kunstmärchen der deutschen Romantik. Der Studiosus Anselmus will das Haus des königlichen Archivarius Lindhorst betreten, aber der Archivarius ist eigentlich ein großer Geisterfürst aus dem wunderbaren Geschlecht der Salamander. In den Kampf des Geisterfürsten für die Schönheit und gegen die schnöde Bosheit der Realität wird Anselmus auf merkwürdige Weise einbezogen.

Wie Anselmus eben die Hand erhebt, um den Türklopfer zu bedienen, verwandelt sich dieser in die höhnisch grinsende Fratze einer teuflischen Frau, die im Verlauf der magischen Handlung immer wieder ihre Daseinsform wechselt. Als Tochter eines Flederwisches und einer Runkelrübe ist sie das feindliche Prinzip, das als Apfelverkäuferin, Kartenlegerin oder als Kinderfrau agiert, aber auch als Kaffeekanne die Gespräche junger Mädchen belauscht oder sich in einen Türklopfer verwandelt. Zwar hat E. T. A. Hoffmann die Handlung in Dresden angesiedelt, aber bei derart krausen Verwicklungen sei es dem Kopf doch gestattet, sich auch auf einem Geländerknauf in Lauenburg zu präsentieren, zumal beide Orte an der Elbe liegen. Wollen Sie noch mehr wissen von dem sonderbaren Kopfe? Das Original, das Hoffmann inspirierte, der Kopf des „Apfelweibchens“ nämlich, befand sich an der Tür des Freundes Hoffmanns, des Weinhändlers Carl Friedrich Kunz (1785-1849), der in der Bamberger Eisgrube 14 wohnte, und den Hoffmann häufig besuchte. Hoffmann wohnte seit 1809 am Bamberger Zinkenwörth (heute: Schillerplatz 26). Kunz gründete 1814 einen Verlag und gab als erster Verleger überhaupt Hoffmanns Phantasiestücke heraus. Das Original des Apfelweibleins wird jetzt im Bamberger Historischen Museum verwahrt; am Hause Eisgrube 14 befindet sich eine Bronzekopie (s. Abbildung 2).

Ach, liebe Freundinnen und Freunde, lesen Sie den Goldenen Topf, und wenn Sie früher schon daraus genascht haben, lesen Sie ihn noch einmal bis zum Happy End, das man hübscher nicht erfinden kann: „Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbart?“

Jürgen Schwalm







Freitag, 4. Oktober 2024

Heute wieder am Helikon

 

Zwei unterschiedliche Gestaltungen zum Thema "Pegasos" 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abb.1. Jürgen Schwalm: Denkmal für Pegasos. Zeichnung einer Plastik von Jürgen Schwalm (durchbohrter Steinkern, Hufeisen, Federn), 1994

 

 

 

 

       Abb.2. Jürgen Schwalm: Die Pegasos-Parade, Collage, 1989

 

Jürgen Schwalm

Heute wieder am Helikon
Ein Hörspiel (1994)


Im Textbuch und auf der Coverhülle der CD-Einspielung des Hörspiels mit der Musik von Matthias Krohn (Marimbaphon) stehen folgende Erläuterungen und Anmerkungen

HEUTE WIEDER AM HELIKON ist ein Monolog im Dialog, die Auseinandersetzung des Autors mit seinem Alter Ego, nennen wir es sein künstlerisches Gewissen. In einem Streitgespräch mit sich selbst verwendet der Autor Bruchstücke aus dem Mosaik seiner Erinnerungen, um Strategien für seine weitere Existenz zu entwickeln. Über das Persönliche hinaus stellt sich bei der Diskussion das entscheidende Problem um die Situation jedes Künstlers im Hier und Jetzt, nämlich um seinen Stellenwert und seine Wirkungsmacht in unserer zunehmend gefährdeten Welt. Im weitesten Sinne geht es auf allen Ebenen doch immer wieder um Sein oder Nichtsein, um Leben und Tod.

                                                                          *

Jedes Leben birgt seine Geheimnisse: Wer sie geschwätzig verschleudert und verrät, tötet sich selbst. Aber wir sind ja nicht allein. Widergespiegelt sind unsere Schicksale in unendlicher Vielfalt und Wiederholung vom Anbeginn; und von Urzeiten sind sie hineingehoben vom Individuellen in die umfassende Wahrheit der Mythen. In ihnen geht es um das Entscheidende: Um Leben und Tod und um Liebe und Hass. So einfach ist das alles und so groß. In der klärenden Sprache der Mythen ist nicht Dichtung und Wahrheit, vielmehr wird in ihnen die Dichtung zur Wahrheit.

                                                                    *

HELIKON, ein Gebirgszug der griechischen Landschaft BÖOTIEN, ausgezeichnet durch die Schönheit seiner Täler, ist von den alten Dichtern als geheiligter MUSENsitz verherrlicht worden. Auf den Gipfel der Hauptkette des Gebirges stand ein Altar des ZEUS HELIKONIOS; nur 70 bis 80 Meter unterhalb entspringt ein Quell des klarsten und frischesten Wassers, die HIPPOKRENE (s. PEGASOS). Etwa acht Kilometer weiter abwärts in einem schmalen Seitentale befand sich im Altertum ein den MUSEN geweihter Hain, der mit zahlreichen Bildwerken geschmückt war… 

                                                                     *

PEGASOS, das geflügelte Ross, das aus dem Blute der GORGO MEDUSA, als PERSEUS dieser das Haupt abschlug, entsprang. Nach der einen Sage stieg es sogleich zum Himmel empor, wo es dem ZEUS den Blitz und Donner trägt; nach der anderen wurde es von BELLEROPHON eingefangen und zum Kampfe gegen die CHIMAIRA benützt. Auf dem Gipfel des HELIKON soll es durch seinen Hufschlag die den Musen geweihte Quelle HIPPOKRENE hervorgebracht haben…Brockhaus 1894

                                                                     *

Der Pegasos versinnbildlicht die geistige, besonders aber die poetische Kreativität und wurde somit zum Symbol für Dichter und Denker. Der so zum „Dichterross“ gemachte Pegasos, auf dem sich die Dichter in Begeisterung emporschwingen, gab öfters Anlass, anstatt den Ausdruck „dichten“ zu verwenden, etwas spöttisch zu sagen: „den Pegasus besteigen“.

Hans Schöpf: Fabeltiere, 1988