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Faksimile
einer japanischen Lackarbeit aus dem 19. Jahrhundert in dem Hauptwerk
von Johannes Justus Rein: Japan nach Reisen und Studien. Foto: Jürgen
Schwalm |
Jürgen Schwalm referiert am Donnerstag, d. 29. Juni 2023 ab 18,30 Uhr in der „Diele“
des Jugendrings Lübeck in der Mengstraße 41-43 beim Stammtisch der Deutsch-Japanischen
Gesellschaft Schleswig-Holstein e.V. über seinen Urgroßvater Johannes Justus
Rein:
Ein deutscher
Wissenschaftler reist 1873-1875 durch Japan
Ein Leben für Forschung und
Lehre
Prof. Dr. Johannes Justus
Rein (1835-1918)
Auszug aus der Einleitung:
Oft haben wir gerade in unserer
Jugend entscheidende Schlüsselerlebnisse. Mögen sie auch für Jahre in den
Hintergrund rücken, so wollen sie sich doch immer wieder in Erinnerung bringen.
Sie werden Bestandteil unseres Lebens. Sie haben Folgen. Manchmal artikulieren
sie sich. Manchmal werden sie dann zum sublimsten Konzentrat einer Impression:
zu einem Gedicht, zu einem Wortbild also, dem seine Entstehungsgeschichte die
Farben verlieh.
Als im Kriegsjahr 1943 die
Luftangriffe auf Berlin zunahmen, die Stadt immer mehr zerstört und die Schulen
geschlossen wurden, evakuierte man meine Mutter und uns vier Geschwister ins Waldviertel,
also in denjenigen Bereich Österreichs, der nach dem „Anschluss an das Deutsche
Reich“ durch das Ostmarkgesetz die ominöse Bezeichnung „Gau Niederdonau“
erhielt. Wir wohnten dort zunächst wie in tiefstem Frieden in der Nähe von
Zwettl im Rokokoschloss Rosenau. Im Schloss, das sogar der Baedeker beschreibt,
gab es damals weder Elektrizität noch Fließwasser; das Leben war dort weder
bequem noch gemütlich, aber gerade durch diese Defizite wurde die Schlossanlage
für mich zum großen Abenteuerspielplatz. Alles sollte 1945 böse enden, aber
zunächst wurde auch meine Mutter getäuscht. So ließ sie sich noch 1944 einen
Erbschaftsanteil, in einer großen Transportkiste verpackt, nach Rosenau senden.
Es handelte sich um einen Teil der privaten Sammlung von Kunstwerken und
kunstgewerblichen Artikeln, die mein Urgroßvater Johannes Justus Rein in den
Jahren 1873-75 bei seinem Aufenthalt in Japan zusammengetragen hatte.
Ich war zwölf Jahre alt, als die
Kiste angeliefert wurde. Als meine Mutter sie auspackte, stand ich staunend
dabei. Mir kam es vor, als hätten wir einen Piratenschatz erbeutet…Der Clou war
für mich ein um einen Holzstab gewickeltes, zwei bis drei Meter langes
Rollbuch. Es handelte sich um ein Itinerar, um den Plan eines historischen
Post- und Reiseweges, der die japanischen Hauptstädte Kyoto und Edo verband
(Edo heißt ab 1868 Tokyo) . Die 536 km lange und in 69 Stationen aufgeteilte
Straße hieß der Nakasendô, „Der Weg zwischen den Bergen“. Mein Urgroßvater
hatte ihn noch streckenweise erkunden können, zu Fuß und zu Pferde, wegen der Gefahr immer in Begleitung, mit einer Pistole
bewaffnet, mit der er jedoch nur selten drohen musste und die er niemals
abzufeuern brauchte.
Ich war von dem Buch bezaubert. Es
war mit roten Fäden umwickelt…
Nahezu ebenso lieb und teuer war mir
ein Schriftkasten, eine Lackarbeit mit vielen Fächern...In dem Schreibkasten
lag auch ein schwarzer Stein zum Anreiben und Aufschwemmen der Tusche. Auf dem
schwarzen Lackdeckel schoben sich goldene Bambusstäbe vor eine blutrot sinkende
Sonne.
1945 überrollte der Krieg das
Rokoko-Idyll, wir gerieten zwischen die Fronten, da ging alles zum Teufel, wir
flohen nach Westen. Viele leidvolle, einschneidende Ereignisse ließen für
Kinderspiele keinen Raum mehr. Jahre vergingen. Doch eines Tages in den
fünfziger Jahren, beim Studium in Kiel, fand ich die Freundin, die später meine
Frau wurde Und viele frühe Erinnerungen wurden wieder lebendig, vor allem an
Urgroßvater Reins Japan-Sammlung, an den Nakasendô auf dem Rollbuch, an den
Schreibkasten mit den goldenen Bambusstäben. Unsere Sammlung ist nie wieder
aufgetaucht, solche Wunder gibt es eben selten. Das schließt andere
Überraschungen nicht aus. Eines Tages kamen japanische Studenten an die Kieler
Universität. Sie brachten getuschte Seidenbilder mit, die sie zum Verkauf
anboten. Ich sah sie mir genau an… Ich wählte das Motiv „See am Abend“.
Nur wenige schwarze Pinselstriche waren darauf, wolkig aufgehellt und zerlaufen
auf weißem Seidengrund. Diese Landschaft hatte keine Staffage wie auf dem
Rollbuch der Kinderzeit, sie war kein Unterhaltungs-Spiel mehr, aber plötzlich
hatte ich viel mehr wiedergefunden als das, was ich einst verloren hatte. Auf
dem Bild standen Schriftzeichen. Ich fragte einen Studenten nach der Bedeutung
der Zeichen. Da lächelte er mich an, verbeugte sich leicht und sagte: „Gutes“.
Da führte ein Weg aus der Vergangenheit in die Gegenwart, traf die Erinnerung
auf mein lebendiges Glück, und es entstand mein „Japanisches Lied“.
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Japanisches Lied
Der Abend malt die Nacht auf Seide
er sinnt am Lied der Dämmerträume
und läuft nun von den dunklen Ufern
so wolkenzart wie Tusche aus
Zu einem Buch füg ich die späten Bilder
und fass es ein mit roten Fäden
und schenk es dir im Flötenschall
an einem Abend der wie heute gleitet
Ich reib noch Farben selbst auf schwarzem Stein
und schreib auf jedes Bild ein einz’ges Wort
Aus meinem Pinsel fließt für dich dahin
was alle Nacht wie Hauch durchdringt
Wo du das Buch entrollst wirst du das Zeichen lesen
und singst mein Lied vom Bambusholz im Wind.