Freitag, 23. Juni 2023

Ein deutscher Wissenschaftler reist durch Japan

Faksimile einer japanischen Lackarbeit aus dem 19. Jahrhundert in dem Hauptwerk von Johannes Justus Rein: Japan nach Reisen und Studien. Foto: Jürgen Schwalm

Jürgen Schwalm referiert am Donnerstag, d. 29. Juni 2023 ab 18,30 Uhr in der „Diele“ des Jugendrings Lübeck in der Mengstraße 41-43 beim Stammtisch der Deutsch-Japanischen Gesellschaft Schleswig-Holstein e.V. über seinen Urgroßvater Johannes Justus Rein:

 Ein deutscher Wissenschaftler reist 1873-1875 durch Japan

Ein Leben für Forschung und Lehre

Prof. Dr. Johannes Justus Rein (1835-1918)

 

Auszug aus der Einleitung:

Oft haben wir gerade in unserer Jugend entscheidende Schlüsselerlebnisse. Mögen sie auch für Jahre in den Hintergrund rücken, so wollen sie sich doch immer wieder in Erinnerung bringen. Sie werden Bestandteil unseres Lebens. Sie haben Folgen. Manchmal artikulieren sie sich. Manchmal werden sie dann zum sublimsten Konzentrat einer Impression: zu einem Gedicht, zu einem Wortbild also, dem seine Entstehungsgeschichte die Farben verlieh.

Als im Kriegsjahr 1943 die Luftangriffe auf Berlin zunahmen, die Stadt immer mehr zerstört und die Schulen geschlossen wurden, evakuierte man meine Mutter und uns vier Geschwister ins Waldviertel, also in denjenigen Bereich Österreichs, der nach dem „Anschluss an das Deutsche Reich“ durch das Ostmarkgesetz die ominöse Bezeichnung „Gau Niederdonau“ erhielt. Wir wohnten dort zunächst wie in tiefstem Frieden in der Nähe von Zwettl im Rokokoschloss Rosenau. Im Schloss, das sogar der Baedeker beschreibt, gab es damals weder Elektrizität noch Fließwasser; das Leben war dort weder bequem noch gemütlich, aber gerade durch diese Defizite wurde die Schlossanlage für mich zum großen Abenteuerspielplatz. Alles sollte 1945 böse enden, aber zunächst wurde auch meine Mutter getäuscht. So ließ sie sich noch 1944 einen Erbschaftsanteil, in einer großen Transportkiste verpackt, nach Rosenau senden. Es handelte sich um einen Teil der privaten Sammlung von Kunstwerken und kunstgewerblichen Artikeln, die mein Urgroßvater Johannes Justus Rein in den Jahren 1873-75 bei seinem Aufenthalt in Japan zusammengetragen hatte.

Ich war zwölf Jahre alt, als die Kiste angeliefert wurde. Als meine Mutter sie auspackte, stand ich staunend dabei. Mir kam es vor, als hätten wir einen Piratenschatz erbeutet…Der Clou war für mich ein um einen Holzstab gewickeltes, zwei bis drei Meter langes Rollbuch. Es handelte sich um ein Itinerar, um den Plan eines historischen Post- und Reiseweges, der die japanischen Hauptstädte Kyoto und Edo verband (Edo heißt ab 1868 Tokyo) . Die 536 km lange und in 69 Stationen aufgeteilte Straße hieß der Nakasendô, „Der Weg zwischen den Bergen“. Mein Urgroßvater hatte ihn noch streckenweise erkunden können, zu Fuß und zu Pferde, wegen der Gefahr immer in Begleitung, mit einer Pistole bewaffnet, mit der er jedoch nur selten drohen musste und die er niemals abzufeuern brauchte.

Ich war von dem Buch bezaubert. Es war mit roten Fäden umwickelt…

Nahezu ebenso lieb und teuer war mir ein Schriftkasten, eine Lackarbeit mit vielen Fächern...In dem Schreibkasten lag auch ein schwarzer Stein zum Anreiben und Aufschwemmen der Tusche. Auf dem schwarzen Lackdeckel schoben sich goldene Bambusstäbe vor eine blutrot sinkende Sonne.

1945 überrollte der Krieg das Rokoko-Idyll, wir gerieten zwischen die Fronten, da ging alles zum Teufel, wir flohen nach Westen. Viele leidvolle, einschneidende Ereignisse ließen für Kinderspiele keinen Raum mehr. Jahre vergingen. Doch eines Tages in den fünfziger Jahren, beim Studium in Kiel, fand ich die Freundin, die später meine Frau wurde Und viele frühe Erinnerungen wurden wieder lebendig, vor allem an Urgroßvater Reins Japan-Sammlung, an den Nakasendô auf dem Rollbuch, an den Schreibkasten mit den goldenen Bambusstäben. Unsere Sammlung ist nie wieder aufgetaucht, solche Wunder gibt es eben selten. Das schließt andere Überraschungen nicht aus. Eines Tages kamen japanische Studenten an die Kieler Universität. Sie brachten getuschte Seidenbilder mit, die sie zum Verkauf anboten. Ich sah sie mir genau an… Ich wählte das Motiv „See am Abend“. Nur wenige schwarze Pinselstriche waren darauf, wolkig aufgehellt und zerlaufen auf weißem Seidengrund. Diese Landschaft hatte keine Staffage wie auf dem Rollbuch der Kinderzeit, sie war kein Unterhaltungs-Spiel mehr, aber plötzlich hatte ich viel mehr wiedergefunden als das, was ich einst verloren hatte. Auf dem Bild standen Schriftzeichen. Ich fragte einen Studenten nach der Bedeutung der Zeichen. Da lächelte er mich an, verbeugte sich leicht und sagte: „Gutes“. Da führte ein Weg aus der Vergangenheit in die Gegenwart, traf die Erinnerung auf mein lebendiges Glück, und es entstand mein „Japanisches Lied“.

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Japanisches Lied

Der Abend malt die Nacht auf Seide
er sinnt am Lied der Dämmerträume
und läuft nun von den dunklen Ufern
so wolkenzart wie Tusche aus
Zu einem Buch füg ich die späten Bilder
und fass es ein mit roten Fäden
und schenk es dir im Flötenschall
an einem Abend der wie heute gleitet
Ich reib noch Farben selbst auf schwarzem Stein
und schreib auf jedes Bild ein einz’ges Wort
Aus meinem Pinsel fließt für dich dahin
was alle Nacht wie Hauch durchdringt
Wo du das Buch entrollst wirst du das Zeichen lesen
und singst mein Lied vom Bambusholz im Wind.

 

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