Freitag, 14. Juli 2023

Goethe I.

Jürgen Schwalm: Goethe-Diptychon, linke Tafel: "Die Urpflanze". - Hinterglasmalerei, 2011

 

Goethe, dem bei stets aufgeschlossener Beobachtungsbereitschaft nichts Menschliches fremd blieb, hat sich nicht gescheut, Gewöhnliches, ja Obszönes und Schlüpfriges, auch zu formulieren. Ich gestehe gerne, dass ich von dieser Offenheit schon als Schüler angetan war. Goethe wurde dadurch für mich zu einer Persönlichkeit aus Fleisch und Blut und nicht zu einem auf hohen Kothurnen dahinschreitenden Klassiker, der schließlich, zum Denkmal erstarrt, angebetet werden wollte.- Der berühmt-berüchtigte Ausspruch des Götz von Berlichingen wurde schon so häufig zitiert, dass ich hier nicht nochmals auf ihn eingehen möchte. Dabei wird oft eine Szene im gleichen Drama übersehen (3. Akt „Wald an einem Morast“), wo ein Reichsknecht einem anderen erzählt, dass er sich in die Büsche schlagen musste, weil er an einem Übel, das man getrost als Scheißerei bezeichnen muss, befallen war. Von dieser Stelle war ich als Junge begeistert, denn ich hatte bislang selbst in vielen naturalistisch abgefassten Romanen Hinweise vermisst, dass der Mensch körperlichen Funktionen und Forderungen unterworfen ist, denen nachzugeben er gezwungen ist bzw. die er regelmäßig erledigen muss.- Nebenbei: Ich erinnere mich, dass ich als Sechsjähriger meine Mutter fragte, was denn die Engel machen, wenn sie einmal müssen, worauf meine Mutter antwortete: „Die verkneifen es!“-

Im letzten Schuljahr vor dem Abitur lasen wir Goethes Faust I und II, wobei ich mich mit Vergnügen auf die Walpurgisnacht-Szenen im Faust I einließ. Zur gleichen Zeit hatte ich gerade damit begonnen, zum ersten Mal Thomas Manns „Zauberberg“ zu lesen. In der ersten Nachkriegszeit hatte mein Deutschlehrer es wohl noch nicht geschafft, die Literatur der Dichter aufzuarbeiten, die während des „3. Reiches“ verfemt waren. Den Zauberberg  schien er nicht gelesen zu haben. Denn meine damalige Frage, ob Thomas Mann zu seinem Romantitel durch die Lektüre der Walpurgisnacht-Szenen angeregt wurde, konnte er nicht beantworten. Das war natürlich der Fall. Denn in der Szene „Harzgebirg Gegend von Schierke und Elend“ spricht das Irrlicht nämlich zu Mephistopheles: Ich merke wohl, Ihr seid der Herr vom Haus, /Und will mich gern nach euch bequemen. /Allein bedenkt! Der Berg ist heute zaubertoll, /und wenn ein Irrlicht euch die Wege weisen soll, /so müsst ihr’s so genau nicht nehmen.-

In der Goethischen Walpurgisnacht galoppiert der Text in ungemein saloppen und nicht selten ordinären Formulierungen munter weiter: Da rufen die Hexen im Chor: Die Hexen zu dem Brocken zieht. /Die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün. /Dort sammelt sich der große Hauf! /Herr Urian sitzt oben auf. /So geht es über Stein und Stock /Es f – t die Hexe, es st – t der Bock.- Je höher sich der ekstatische Hexentanz aufschaukelt, desto mehr häufen sich die sexuellen Anspielungen: Hexen im Chor: Der Weg ist breit, der Weg ist lang, /Was ist das für ein toller Drang? /Die Gabel sticht, der Besen kratzt, /Das Kind erstickt, die Mutter platzt.- Der Hexenmeister ruft mit dem halben Chor: Wir schleichen wie die Schneck‘ im Haus, /Die Weiber alle sind voraus. /Denn geht es zu des Bösen Haus, /Das Weib hat tausend Schritt voraus. – Die andere Chorhälfte fällt ein: Wir nehmen das nicht so genau, /Mit tausend Schritten macht’s die Frau; /Doch, wie sie auch sich eilen kann, /Mit einem Sprunge macht’s der Mann.- Faust, mit der jungen Schönen tanzend, fährt fort: Einst hatt‘ ich einen schönen Traum; /Da sah ich einen Apfelbaum. /Zwei schöne Äpfel glänzten dran, /Sie reizten mich, ich stieg hinan. Die Schöne ergänzt: Der Äpfelchen begehrt ihr sehr /Und schon vom Paradiese her. /Von Freuden fühl ich mich bewegt, /Dass auch mein Garten solche trägt. – Mephistopheles tanzt mit der Alten: Einst hatt‘ ich einen wüsten Traum; /Da sah ich einen gespaltnen Baum, Der hatt‘ ein - - -;/So – es war, gefiel mir’ s doch. – Die Alte: Ich biete meinen Besten Gruß /Dem Ritter mit dem Pferdefuß /Halt‘ er einen - - bereit, /Wenn er - - - nicht scheut.

In unserer Klasse hatten wir einen Schüler, der unseren Deutschlehrer in Verlegenheit setzen wolle. Er fragte deshalb: „Das mit den Äpfelchen kapier ich nicht!“. Aber da war er denn doch an den Falschen geraten. Denn der Deutschlehrer sagte ganz trocken zu ihm: „Stell dich doch nicht dümmer an als du bist!“ Ich sehe noch, wie die Ohren des Schülers rot anliefen, als er sich hinsetzte.

Die einzigartige Bedeutung, die Goethes Faust-Dichtung in der Weltliteratur einnimmt, konnte ich freilich noch nicht während er Schulzeit, sondern erst nach eigenen Lebenserfahrungen erfassen.

                                                                                        (Fortsetzung folgt)

                                                                                                Jürgen Schwalm 

 

 

 

 

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