Freitag, 25. April 2025

 

(Foto: Gisela Heese)

Götterdämmerung

Im Frühsommer 1943 wurden wir von Berlin nach Schloss Rosenau bei Zwettl/Waldviertel evakuiert. Dort erlebten wir 1944/45 das Kriegende. Darüber berichtete ich in meinen Erinnerungen „Rückblenden/Frühe Jahre“ u.a.:

Götterdämmerung

Helle Flammen scheinen in dem Saale der Götter
aufzuschlagen. Als die Götter von den Flammen
gänzlich verhüllt sind, fällt der Vorhang.
Regieanweisung von Richard Wagner


In diesem Winter vor der Götterdämmerung sah ich oft in den Sternenhimmel. Flugzeuge kreuzten hier zwar nicht auf wie in Berlin. Aber kannten die Sterne wirklich noch ihre Bahnen? Sie blinkten jedenfalls schon viel kälter. 
Alle Sonnen bekamen Flecken, besonders die am höchsten dekorierten. Sonnenflecken lassen sich nicht mit Sidol wegpolieren wie Schmutz von Uniformknöpfen. 
In diesem Winter gab es immer mehr Uniformierte, die ganze Welt war schließlich uniformiert. Und nachts fingen uniformierte Katzen die Mäuse ein, die sich verkriechenwollten.
 
Die Internate von Krems und Zwettl wurden Ende März 1945 geschlossen. Und wir Kinder kamen zu unserer Mutter nach Schloss Rosenau bei Zwettl. 
Im Schloss zog Militär ein; es war ein Gewimmel dort wie in einem Bienenstock. 
Das Waldviertel lag zwischen der Ost- und der Westfront, und beide Fronten rückten kaum noch aufgehalten näher. Nachts erzitterten manchmal schon die Schlossfenster vom Donner der Geschütze.
Es war nur eine Frage der Zeit, wer uns eher überrollen würde, die Ostfront oder die Westfront. Und die Russen waren schließlich schneller. 
Wir konnten buchstäblich in letzter Minute von Rosenau „in Richtung Westen“ fliehen, als die Russen schon in Zwettl einfielen. In der Panik fallen alle Schranken. 
Schon vor unserer Abfahrt aus Rosenau waren Ortsansässige in unsere Wohnung eingedrungen und hatten (nach der Parole: Wir nehmen uns, was wir kriegen, die kommen ohnehin nie mehr wieder!) rigoros geplündert. 
 
Ein Chronist nimmt sich das Recht, den Ereignissen vorzugreifem.
Die Russen eroberten das Schloss, zerhackten das Parkett und die Einrichtung der einstigen Repräsentationsräume bei Wodka-seligen Siegesfeiern, zündelten und entfachten solangemit dem barockem Mobiliar Freudenfeuer, bis die Fensterscheiben in der Hitze zerplatzten. Baron L. verkroch sich, verschanzte sich, wurde doch gefasst, inhaftiert, irgendwann freigelassen.

Erst nach der Besatzungszeit kam das Schloss wieder in seinen Besitz. Es war aber so heruntergekommen, dass er es 1964 der Siedlungsgemeinschaft des Landes Niederösterreich überließ. Die Schlossanlage

wurde vollständig restauriert und ist seit 1974 ein luxuriöses Schlosshotel mit einem Restaurant für „gehobene Ansprüche“, das seine Vorzüge mit prachtvollen Bildern im Internet vermarktet.
Auch Schlösser haben ihre Schicksale, und manchmal führt ihre Demolage sogar zu einer glücklichen Auferstehung.

Mai 1945. Es gibt Ereignisse, deren Echo sich nie verliert. Annette Kolb, die aus dem Vaterland Vertriebene, hat diese Formulierung gefunden. Entsetzen kann sprachlos machen. Dann verdichten sich die Ereignisse zu explosiven Kommandos. Ungefähr dreißig Personen wollten mit uns westwärts fliehen. Nur nicht in die Klauen der Russen geraten. Eher bringen wir uns um.
Landser hatten zwei Wehrmachtsbusse „organisiert und umlackiert“. Sie standen bereit. Auch die Fahrer, zwei „erfahrene“ Soldaten in Zivil.

7. Mai 1945. 
Später Nachmittag.
Unsere Mutter hatte uns Kinder im ersten Bus untergebracht.
Es saßen schon vier Männer darin.
Sie selber fuhr im zweiten Bus, dessen Abfahrt sich verzögerte.
Schnell wurde ein Treffpunkt vereinbart.
Darauf einzugehen war ein Fehler, für den meine Mutter aber in dieser Situation nicht verantwortlich gemacht werden darf.
Wir fuhren also ohne unsere Mutter los.
In den Abend, in die Nacht.
Der Fahrer stellte das Autoradio an.
Keine Musik mehr.
Nur noch Ansagen, schnarrende Reportagen, Satzfetzen, Fadings. Bedingungslose
Kapitulation um Mitternacht.
Demarkationslinien.
Wo sind wir? Schon auf der richtigen Seite?
Der Fahrer, der bisher sehr nett und freundlich zu uns war, änderte plötzlich sein Verhalten.
Der Motor sei defekt, brummte er.
Er könne nicht weiterfahren.
Wir sollten aussteigen und zu Fuß ins nächste Dorf laufen.
Dort würden wir auf den Bus mit unserer Mutter treffen.
Ganz bestimmt.
Verlasst euch auf das, was ich euch sage! –
Wir glaubten aber gar nichts mehr.
Seit dieser Nacht wollten wir keinem mehr vertrauen.
Meine Schwester Renate fragte: „ Warum laufen wir denn nicht alle zusammen dorthin?“
„Nee“, sagte der Fahrer brutal. „Wir hauen uns hier in die Büsche, meine Kameraden undich. Wir tauchen hier ab. Wenn wir geschnappt werden, sind wir dran. - Ihr seid Kinder. Euch
kann nichts passieren!“.
Die Männer ließen uns aussteigen und warfen unser Gepäck auf die Straße.
Wir drei Großen mussten jeweils einen Koffer und einen Rucksack tragen, auch meinem
Bruder Dirk wurde ein kleiner Rucksack auf den Rücken geschnallt.
Pechschwarz war die Nacht, totenstill, ausgesternt, kalt.
Wir stolperten die Straße entlang und wagten zunächst nicht, uns umzudrehen. Nach fünf
Minuten blickten wir zurück. Der Bus war nicht mehr zu sehen.
Kein Auto kam uns entgegen oder fuhr an uns vorbei.
Wir liefen bis zum Morgen, schleppten uns mit letzter Kraft in ein Dorf, entzifferten im ersten
Morgenlicht ein Schild: Es war der vereinbarte Ort!
War das Zufall? Es gibt keine Zufälle, es gibt nur Schicksale.
Ich hatte es an jenem Morgen gelernt.
Wir schlurften bis zum Kirchplatz, warfen dort das Gepäck auf den Wiesenstreifen am
Straßenrand und entleerten ohne Scham unsere Blasen.
Es war uns jetzt alles egal.
Die Kirchenglocken schlugen an,
Einwohner kamen an uns vorbei, glotzten uns an und eilten zum Kirchenportal.
Da stand ein Sarg. Jemand war gestorben und sollte noch so schnell wie möglich unter die
Erde gebracht werden.
Das gab uns den Rest. Uns war, als würden wir selber begraben.
Minuten vergingen. Zwei Stunden.
Wir wollten unseren Augen nicht trauen, als plötzlich der zweite Bus mit meiner Mutter aus
dem Nichts auftauchte.
Wir winkten wie Verrückte.
Der Bus bremste scharf und stand.
Meine Mutter riss die Tür auf. Strahlte. Wir weinten, wir lachten. Lagen uns in den Armen.
Wollten nur noch fort, nur noch weiter.

Es waren nun mit uns 23 Personen im Bus, Kinder und Erwachsene. Mütter wie meine Mutter. Das verbindet. Da halten die Mütter zusammen. Und meine Mutter übernahm die Führung, die Organisation der weiteren Fahrt. Eine moderne Odyssee.
Die Erinnerung ist ein Zeitraffer.
Statt der Landschaftsbilder, die an uns vorüberzogen, aber in der Aufregung nicht zu fangen waren, flogen Ortsschilder vorbei, eine Litanei der Namen: Deggendorf, Plattling, Bogen, Wörth, Falkenstein, Schwandorf, Weiden, Kulmbach, Bamberg, Heldburg, Römhild, Hildburghausen, Meiningen, Schmalkalden, Eisenach, Eschwege.
Wir versuchten, die Namen auf der einzigen Wehrmachts-Karte, die uns zur Verfügung stand, wiederzufinden. Eine Gea-Übersichtskarte, 1: 2 000 000 mit dem Aufdruck: „Karten sind knapp -- bei Quartierwechsel mitnehmen.“
Stichwort: Quartierwechsel.
Wo finden wir ein Quartier für die nächste Nacht?
Wir mieden die Hauptstraßen, um den Militärkontrollen auszuweichen.
Fuhren abenteuerliche Nebenwege über die Dörfer. Da konnte der Bus unauffälliger abgestellt werden; er durfte ja nicht beschlagnahmt werden.
Jeder war sich selbst am nächsten, nahm sich, was er brauchen konnte. Der Bus musste bei Nacht bewacht werden, sonst konnte er am Morgen weg sein.
Wir schliefen bei Bauern in der Scheune. Wühlten uns im Stroh ein; die Sterne blinkten ungerührt durch löcherige Dächer. Wir hörten die Pferde in den Ställen stampfen, Schafeblöken.
Ich dachte an die Weihnachtsgeschichte. Maria und Joseph. Nur unser Joseph war nicht
dabei. Wo mochte er jetzt sein?
Unsere Mutter war eine Maria, die vier Kinder versorgen musste.
Und die sich verantwortlich fühlte für die Heimatlosen unserer Schicksalsgemeinschaft. Die
verloren allzu oft und zu schnell den Kopf.
Wir erschnorrten bei Bauern das Essen.
Viele ließen sich das gut bezahlen, wenn auch keiner wusste, was das Geld in dieser Zeit überhaupt noch wert war.
Oft wurden wir abgewiesen. 23 Personen, und dann noch die vielen Kinder dabei, das war
den meisten zu viel.
Verteilt euch doch auf mehrere Höfe, hieß es. Und: Es geht wirklich nur für eine Nacht. Und wenn wir euch unterbringen, ist das doch in Risiko für uns. Wer weiß, was für Nazis ihr gewesen seid. Ob die Männer, die ihr mitschleppt, nicht doch als Kriegsverbrecher gesucht werden, SS-Angehörige waren?
Mein Herz klopfte.
Ich wusste ja, dass drei Männer dabei waren, die vor der Flucht ihre Orden und Uniformen
vergraben hatten.
Merkwürdig, dass mich meine Ängste nicht auch noch in den Träumen jagten. Ich schlief
jede Nacht wie ein Sack, taumelte durch die Tage.
Unser Treibstoff wurde knapp, die mitgeführten Kanister leerten sich.
Wir mussten ein Ziel finden.
Mutter ließ abstimmen.
Die Mehrheit wollte nach Niedersachsen.
Dort wollte man sich trennen. Und so geschah es auch.
Es gab nur kurze schmerzlose Abschiede. Jedem blieben die eigenen Sorgen.
Mutter hatte einige Wochen vor unserer Flucht aus Rosenau einen Brief von Herrn Dr.
Gerhard Jungmann erhalten. Jungmann war ein alter Freund meines Vaters und praktischer

Arzt in Markoldendorf, Kreis Einbeck.
Mutter konnte unseren Fahrer überreden, den Versuch zu machen, Markoldendorf zu erreichen. 
Es gelang ihm mit dem Rest der letzten Tankfüllung.
Auf dem Hof des Bauern F. blieb der Bus stehen.
 
Es war ein wunderbar sonniger Tag im Mai 1945.
An Markoldendorf war der Krieg vorbeigezogen.

Ich hatte nichts dagegen, dass der Tag so strahlte.
Ich ahnte zum ersten Mal in meinem Leben: So fühlt sich der Frieden an.
Weich und warm.
Was die Zukunft und das Schicksal uns auch bringen würde, ich war frei und bereit.
Wach war ich im Jetzt und Hier.
Bereit war ich zu neuem Beginn.
Ich wagte den Anfang.

 

 Abb.1 Jürgen Schwalm (links) mit seinem dreijährigen Bruder Dirk 1943 
m Park von Schloss Rosenau. Foto: Renate Schwalm
 Abb. 2 Schloss Rosenau bei Zwettl /nach dem Anschluss Österreichs: Niederdonau. 
Die Familie Schwalm wohnte 1943-1945 im Obergeschoss des Schlosses rechts.
 
 
 
 
 

 

 

 

 

Freitag, 11. April 2025

Von Knaggen und Triforien


 Jürgen Schwalm

Von Knaggen und Triforien

Der maßlose Anspruch der gotischen Kathedral-Kunst, das Himmlische Jerusalem auf Erden zu errichten, musste wie alle derartigen Visionen scheitern. Das ist die Perspektive jedes menschlichen Strebens: der große Gedanke kämpft mit den irdischen Unzulänglichkeiten und zieht den Kürzeren. Dennoch bewundern wir gerade in der Gotik dasVollendete im Unvollendeten.

                                *


Zur Gotik passt das strenge Maßwerk der Bauhütten-Hierarchie, die bizarre Nomenklatur der Aufrisse mit den Fialen, Wimpergen, Triforien, Dinsten und Knaggen. Lotrecht ist das Linienwerk aller heiligen Entwürfe. Dass die Linien schließlich doch spitzwinklig aufeinanderstoßen müssen, wenn auch in höchster Höhe, ist nur ein Kompromiss.Trost spendet ausgerechnet eine mathematische Regel: Parallelen treffen sich erst im Unendlichen, also im Himmel.

*

Der verzückte Glaube der Gotik lässt den Leib des Menschen nur noch Gefäß der Seele sein. Gewandfalten ersetzen den Körper; aber die Gesichter der Statuen spiegeln die Himmels-Sehnsucht. Genauso verhält es sich mit der Architektur. Das Mauerwerk bricht auf. Der Leib der Kirche ist nur noch Gefäß für das Licht. In den Farben der zwölf Edelsteine der apokalyptischen Himmelsstadt durchdringt es den Raum.

*


Pflanzliche Strukturen gestalten den gotischen Raum. Die Idee war nicht neu. Sie lag ja schon den altägyptischen Tempelbauten zugrunde. Im Musterbuch der Natur war die Papyrusstaude die Vorzeichnung der Säule. Nichts ist dennoch konträrer als die Architektur der Antike und der Gotik. Diesseitig, realitätsbezogen und praktisch sind die Strukturen der Antike; jenseitig, abgehoben und transzendent jene der Gotik. Die Meißelfertigkeit der Gotik schuf Fensterrosen und Kreuzblumen. Dem Wachstum der steinernen Stauden und der Säulenwälder waren in der Vertikalen keine Grenzen gesetzt außer denen der Statik, deren Gesetze nach vielen Rückschlägen beachtet werden mussten wie göttliche Gebote. Die Schwester der Architektur ist die Mathematik, und niemals war der Ausdruck Reißbrettarchitektur zutreffender als in der Gotik.

(aus: Wort und Bild und Kunst und Leben) 

Freiburg/Breisgau, Münster. 
Blick durch den filigranen Turmhelm 
und in die Turmspitze
Fotos: Jürgen Schwalm, 1952



 

Freitag, 4. April 2025

"Der Weg zu uns"

Jürgen Schwalm: "Die Botschaft", Hinterglasmalerei, 2013

 


Soeben erschien in der Husum Druck- und Verlagsgesellschaft die von Therese Chromik herausgegebene Euterpe-Anthologie BEGEGNUNGEN zum 90. Geburtstag von Bodo Heimann, für die 26 Autorinnen und Autoren Beiträge lieferten. Von Jürgen Schwalm erschien darin der Kurzprosatext "Der Weg zu uns" unter dem Motto: "Alle Mythen sind unsterblich und wiederholen sich in unserem Leben", eine moderne Variante der Irrfahrt des Odysseus.

 

 

 

 


Freitag, 28. März 2025

Hoffnung

Amazonit (Grüner Mikroklin), Norwegen. Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm


Hoffnung


Es bleibt uns trotz allem die Hoffnung auf einen neuen Bund. An einem schönen Frühlingstag etwa, angekündigt durch einen Regenbogen, der wieder alle Farben zeigt.


Zweifle ich auch bei allem Wechsel an der Gnade der Beständigkeit, so gibt es doch die Möglichkeit neuer Siege: dies ist der Glaube, der mich nicht sprachlos werden lässt.


Jürgen Schwalm

 

 

 

 

Freitag, 21. März 2025




 

 

Jürgen Schwalm

Türmer-Lied

Da hast du nun unter größten Mühen die höchsten Mauerzinnen erklommen, siehst die Welt bis zum fernen Horizont hoffnungsgrün vor dir ausgebreitet und willst gerade dein Türmer-Lied anstimmen, da
beschlägt der Zauberspiegel und das Märchenschloss, auf dem du stehst, bricht unter dir zusammen.

Es kracht und staubt, und wenn du schließlich wieder zu dir kommst, findest du dich, an Ketten geschmiedet, in demselben Verlies wieder, aus dem du einst ausgebrochen warst.



 
 
 
 
 
 
Landschaftsachat ("Steinbruch"), Italien, 
Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm
 
 
 
 
 
 
 

Freitag, 14. März 2025

Aufschlüsse

 Ein in Spektralfarben schimmernder Labradorit aus Tuléar /Madagaskar. Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm     



Aufschlüsse

Goethe interessierte sich auch besonders für Geologie und Mineralogie
und hinterließ Steinbrüche von Ideen.

Der Wissenschaftler gebraucht für Steinbruch auch das Wort Aufschluss, und diesen Begriff könnte man über Goethes Gesamtwerk stellen.

Es lohnt sich immer wieder, an seinen Gedanken-Gebirgen mit dem
Geologenhammer zu klopfen, um neue Entdeckungen zu machen.
Steinproben nennt der Geologe auch Stufen, und dieser Ausdruck
entspricht der Forderung, die Goethe an sich selbst stellte. Es ging ihm
immer darum, durch stufenweisen Aufschluss zu Erkenntnissen zu
kommen.

Jürgen Schwalm
 
 
 
 
 

Freitag, 7. März 2025

Blümerant 

Ein nahezu vergessenes Modewort ist blümerant. Mit Blümchen hat das nichts zu tun. Aber mit BLAU. Blau wie der Himmel, wie das Meer. Kornblumenblau sind die Augen der Frauen beim Weine -, na, da wären wir ja schon mitten drin im Suff, der blau macht und unter Umständen auch blümerant. Es gibt Worte, die auf der Straße liegen: Zunächst läuft man sich die Schuhsohlen 

 darauf ab, und plötzlich sind sie nicht mehr wiederzufinden. Mir wird so blümerant. Mit diesem Seufzer wurden Ohnmachten eingeleitet, als noch Korsettstangen Wespentaillen quetschten. Aber auch Onkel Geier gebrauchte ihn, als er erfuhr, dass seine Firma Pleite ging. Wo bleiben solche Worte wie blümerant, wenn sie abgetreten sind? Um den Ursprung des Wortes blümerant aufzuspüren, müssen wir zum Anfang des 19.Jahrhunderts abtauchen: Deutschland stand unter französischer Besatzung, und für die war Blau halt Bleu. Bleu, bleu, bleu sind alle meine Kleider. Wenn das Bleu verschießt, wird es zum sterbenden Blau, zum Bleu mourant, das, zu blümerant verschlissen, schließlich in die Mottenkiste der Worte geworfen wird. Aber es gibt ja mehr und mehr Second-Hand-Shops. Und vielleicht erbarmt sich ein Teeny, der den alten Wortfummel wieder anziehen will? Die Kleidermode wiederholt sich bekanntlich ja auch immer wieder.

Jürgen Schwalm

 

Abb.1:  Jürgen Schwalm: "Der Stoff, aus dem die Träume sind", Hinterglasmalerei, 2011. Bleu mourant = sterbendes Blau war im 19. Jahrhundert eine Modefarbe für Stoffe, nämlich ein helles Blau wie das in den Kreisen des Bildes.

Abb.2: Darstellung einer "Wespentaille" In Friedrich Eduard Bilz (1842.1927). Leiter der Naturheilanstalt Dresden-Radebeul: "Das neue Naturheilverfahren", 100. Auflage, Leipzig, 1900. Eine "Wespentaille" zu haben, war besonders am Ende des 19. Jahrhunderts das Schönheitsideal der Frauen. Sie konnte nur durch rigoroses Schnüren von Korsagen erzielt werden und führte zu grotesken Verbiegungen im Brust- und Bauchbereich und Verlagerungen der inneren Organe.- Es lässt sich denken, dass den Frauen bei diesen Maßnahmen oft blümerant = übel wurde. 

 

 

 

 

 


 

Freitag, 28. Februar 2025

Wenn mein Kind tanzt...

Ulrikes Lieblings-Puppe, Foto: Jürgen Schwalm



Jürgen Schwalm

Wenn mein Kind tanzt
in Trauer versunken,
weinen die Sterne:
Tränen fürs Knopfloch der Träume
über dem Herzen der Märchen.

 

(Dieses Gedicht schrieb ich 1966, nachdem ich meine damals fünfjährige Tochter
beobachtet hatte, wie sie ganz für sich nach einer nur für sie hörbaren Melodie weinend tanzte.)

 

 

 

 

Freitag, 21. Februar 2025

Winter-Lied


 








 

 

 

 

  Jürgen Schwalm


Winter-Lied

Dieser starre Zweig
und seine weiße Last.
Du kamst zurück,
mein liebster Morgenbote,
noch ohne Schwingen,
streiftest meinen Schnee ab,
schütteltest mein Gefieder.
Geh nicht wieder fort.
Ich schenk dir Flügel
mit meiner Stimme.

 

 



 
 
Astrid Cordes: Wandschirm (Paravent)
mit Glasschliff: Vogelmotiv und Text des
Gedichtes "Winter-Lied" von Jürgen Schwalm,
1995. - Foto: Jürgen Schwalm


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Freitag, 14. Februar 2025

Adolf Friedrich Graf von Schack

Adolf Friedrich Graf von Schack (1815-1894) gehörte im 19. Jahrhundert zu den geschätzten und bekanntesten Literaten und Kunstsammlern. König Maximilian von Bayern hatte ihn (neben u.a. Emanuel Geibel) zur Belebung der bayerischen Kulturszene als „Nordlicht“ nach München berufen, wo Schack die nach ihm benannte Schack-Galerie gründete. Im Handbuch der deutschen Literatur von August Kippenberg (Ausgabe von 1894) wird über Schack berichtet: Zu den Männern, mit denen Geibel in München im vertrauten Umgang verkehrte, gehörte auch Graf Adolf Friedrich von Schack, einer der bekanntesten und vielseitigsten Dichter der Gegenwart. In demselben Jahr wie Geibel geboren und ein Sohn derselben Ostseegegend (Schack stammt aus Brüsewitz in Mecklenburg-Schwerin), stellt er sich durch Adel der Gesinnung und Gehalt und Formenschöne seiner Poesie dem großen Genossen würdig zur Seite. Schack widmete sich nach einer kurzen Tätigkeit im Staatsdienste ganz der Kunst und Literatur. Für seine poetische Entwickelung waren von großer Bedeutung seine längeren Reisen in Spanien, Italien und dem Morgenlande; in dem ersten Lande nahm er einen mehrjährigen Aufenthalt. Außer lyrischen Erzeugnissen schuf Schack größere Ideendichtungen (Die Nächte des Orients oder die Weltalter), epische Gedichte (Die Plejaden) wie Novellen in Versen und auch eine größere Anzahl von wirkungsvollen
Dramen (Die Pisaner, Timandra). Ein entschiedener Zug in der Dichtung Schacks ist die echt nationale Gesinnung, von der manche seiner Schöpfungen so beredt Zeugnis ablegen. Der Dichter lebt seit vielenJahren in angenehmen Lebensverhältnissen zu München. 

 

  „Die Nächte des Orients“ widmete Schack meiner Ururgroßtante Hedwig Dragendorff (1807 – 1896) mit einem langen Eingangsgedicht. Hedwig Dragendorff war Gesellschafterin und Erzieherin im Elternhaus des jungen Adolf von Schack gewesen und blieb ihm zeitlebens freundschaftlich verbunden. Sowohl Hedwig Dragendorff als auch Schack schrieben und publizierten Erinnerungen, in denen sie -fast gleichlautend- ihrer gegenseitigen Zuneigung Ausdruck verliehen (s. hierzu: Jürgen Schwalm, Hedwig und Franziska Dragendorff, Lebensbilder aus dem 19. Jahrhundert, Seemann, 2022)

 

 
Fotos: 
Hedwig Dragendorf in der Jugend und im Alter 
(Bildarchiv Jürgen Schwalm)



 


 




Freitag, 7. Februar 2025

Almanach deutschsprachiger Schriftsteller-Ärzte 2025


 

Soeben erschien, herausgegeben von Seemann Publishing Mazarron, der Almanach deutschsprachiger Schriftsteller-Ärzte 2025, 48. Jahrgang, in dem Beiträge von 29 Autorinnen und Autoren stehen. Jürgen Schwalm publizierte darin frühe Erinnerungen unter dem Titel Rückblenden:

Motto:

Das Kind fragt nicht nach dem Wert und dem Unwert der Dinge. Es spielt mit Glasscherben wie mit Edelsteinen. Es sieht in allem ein Geheimnis, ein Abenteuer, ein Versprechen. Es hält sich für unsterblich, es glaubt nicht an Kreuz und Tod. Es verachtet die Vernunft und die Realität und könnte deswegen den Erwachsenen zeigen, wie man überlebt. 

Genealogisches Vorspiel – Ur-Stier und flüchtender Hirsch 

Karl Ernst von Baer hatte 1828 als erster darauf hingewiesen, dass die Larven oder Embryos zweier unterschiedlicher Arten einander stärker ähneln als die erwachsenen Exemplare dieser Arten. Nach ähnlichen Beobachtungen formulierte Ernst Haeckel 1866 die vieldiskutierte biogenetische Grundregel: Die Ontogenese rekapituliert die Phylogenese. Damit wird - weniger gelehrt formuliert – behauptet, dass auch der Mensch während des Wachstums im Unterleib die evolutionäre Entwicklung vom Ei über den Kiemenatmer wiederholt. In diesem Zusammenhang wird oft die Kiemenspaltenphase erwähnt, die der menschliche Embryo durchläuft. Die biogenetische Regel wurde später erweitert durch die Ansicht, dass Kinder im Laufe ihrer Sozialisation Stadien der kulturellen Entwicklung des Menschen absolvieren… Mit dem Geburtsvorgang wiederholt sich der Schöpfungsakt…

Vor der Geburt
als ich die Höhle fand
gejagt
knochenbleich im ungegerbten Fell
das Steinbeil im Fleisch schweißnass
als ich den Spalt fand
Bei der Geburt
als ich gepresst wurde
und die Eihaut schlitzte

Nach der Geburt
als ich in der Felsenflucht den Blitz sah
mit Blut malte
die Fingersprache
mit scharfen Nägeln
in die Wände ritzte
Bannsprüche und Zauberzeichen
in die Nacht schleuderte
kienrußige Bilder
ins Flackerlicht rückte:
den Ur-Stier und den flüchtenden Hirsch… 

 

 

 

 

Freitag, 31. Januar 2025

Weltärztebund - Deklaration von Genf

Jürgen Schwalm: Äskulapstab, Hinterglasmalerei, 2019  



Weltärztebund – Deklaration von Genf

Das ärztliche Gelöbnis

 
Als Mitglied der ärztlichen Profession gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.

Die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Patientin oder meines Patienten werden mein oberstes Anliegen sein.

Ich werde die Autonomie und die Würde meiner Patientin oder meines Patienten respektieren. Ich werde den höchsten Respekt vor menschlichem Leben wahren.

Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.

Ich werde die mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod der Patientin oder des Patienten hinaus wahren.

Ich werde meinen Beruf nach bestem Wissen und Gewissen, mit Würde und im Einklang mit guter medizinischer Praxis ausüben.

Ich werde die Ehre und die edlen Traditionen des ärztlichen Berufes fördern.

Ich werde meinen Lehrerinnen und Lehrern, meinen Kolleginnen und Kollegen und meinen Schülerinnen und Schülern die ihnen gebührende Achtung und Dankbarkeit erweisen.

Ich werde mein medizinisches Wissen zum Wohle der Patientin oder des Patienten und zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung teilen.

Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können.

Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.

Ich gelobe dies feierlich, aus freien Stücken und bei meiner Ehre.




Freitag, 24. Januar 2025

An der Nordseeküste

 Muschelschalen. Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm

 

 

Jürgen Schwalm

An der Nordseeküste
Dem Grafiker und Maler Hans Rieder in Memoriam


Deine Wimpern
vernäht vom Schlaf langer Qual
sind zerteilt und durchzuckt
vom Küstenlicht aus Himmelszacken.
Dein Erwachen
beißt violett
in die Flanken der Dünen.
Nicht loslassen.
Verzahnt bleiben.
Hänge die Wolken ab
durchbreche den Wogenstrich.
Verwüte deine Farben
im Regen und in Meerwettern.
Ist der Sturm verweint
wird das Salz
von Muschelschalen aufgefangen
wie von geöffneten Händen.


(in: Jürgen Schwalm, Aus Nimmermehr ein Immermehr,
Breit-Verlag Marquartstein, 1977)








Freitag, 17. Januar 2025

Neuschwanstein, das weltberühmte Märchenschloss des Bayernkönigs Ludwig II, wird 2025 UNESCO-Weltkulturerbe

 

Ludwig II von Bayern, Gemälde von Ferdinand Piloty (1828-1895)


Jürgen Schwalm

Ludwig II
König der Bayern

Dies Bild lebt immer fort
tief im Gebirg in den Hütten,
wo die frommen Leut
den Herrgottswinkel im Auge behalten
und den einsamen König weiter verehren,
wie er im nächtlichen Schlitten
noch immer durch den dunklen Tann fährt,
allein mit seinem Herzensgeheimnis
und seinem grenzenlosen Heimweh,
dort, wo winters der Schnee
sich über die Almen breitet,
als weißes Tuch,
das sie zuletzt auch um seine Bahre gehüllt haben.
In Klangfluten versunken
hatte er sein Leben beendet,
aber seine Schlösser haben ihn überdauert
verschönt durch die Gnade verklärender Erinnerung.








Freitag, 10. Januar 2025

Weiße Festung

Verwehter Weg, Winterstudie von Alfred Gruber in der Illustrirten Zeitung vom 28. Januar 1932


Jürgen Schwalm

Weiße Festung

Stürme halten die Hügel umstellt.
Mein Haus ist zur weißen Festung geworden.
Versiegelt ist das beschriebene Buch meines Lebens.
Die Brücken schneiten ein.


Da kommt doch plötzlich eine Nachricht von dir,
und ich bin nicht mehr sicher vor mir:
Ich spüre voll Glück, dass das Eis in mir schmilzt.


(Urform in: Jürgen Schwalm, Aus Nimmermehr ein Immermehr,
Gedichte, Verlag Theo Breit, Marquartstein, 1977)





 

Freitag, 3. Januar 2025

Die Liebe ist ein Vogel

 

Blauer Vogel, Wandkachel. Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm


Jürgen Schwalm
Die Liebe ist ein Vogel
(einem niederdeutschen Volkslied nacherzählt)

1. Sie – ein munterer Vogel – hatte sich zu ihm verflogen und saß nun im Käfig
seines Herzens gefangen, denn er hatte dessen Tür schnell zugeschlagen.
2. Wie sie in ihm mit den Flügeln flatterte, wurde ihm ganz sonderbar. Aus Mitleid
öffnete er die Herzenstür noch einmal einen kleinen Spalt; da war sie flugs
herausgeflogen.

3. Er sehnte sich nach ihr und wollte sie wiederbekommen. Sie aber wollte es
vertraglich haben: Sie kehre gern zu ihm zurück, doch müsse seine
Herzenstür am Tag und in der Nacht für sie stets unverschlossen bleiben.
4. Er tat’s und hat
es später schwer bereut, denn die meiste Zeit der Jahre war
sie kaum bei ihm zu Haus gewesen.



(Urform in: Jürgen Schwalm: Aus Nimmermehr ein Immermehr,
Breit-Verlag 1977)