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(Foto: Gisela Heese) |
Im Frühsommer 1943 wurden wir von Berlin nach Schloss Rosenau bei Zwettl/Waldviertel evakuiert. Dort erlebten wir 1944/45 das Kriegende. Darüber berichtete ich in meinen Erinnerungen „Rückblenden/Frühe Jahre“ u.a.:
Götterdämmerung
Erst nach der Besatzungszeit kam das Schloss wieder in seinen Besitz. Es war aber so heruntergekommen, dass er es 1964 der Siedlungsgemeinschaft des Landes Niederösterreich überließ. Die Schlossanlage
wurde vollständig restauriert und ist seit 1974 ein luxuriöses Schlosshotel mit einem Restaurant für „gehobene Ansprüche“, das seine Vorzüge mit prachtvollen Bildern im Internet vermarktet.Mai 1945. Es gibt Ereignisse, deren Echo sich nie verliert. Annette Kolb, die aus dem Vaterland Vertriebene, hat diese Formulierung gefunden. Entsetzen kann sprachlos machen. Dann verdichten sich die Ereignisse zu explosiven Kommandos. Ungefähr dreißig Personen wollten mit uns westwärts fliehen. Nur nicht in die Klauen der Russen geraten. Eher bringen wir uns um.
Landser hatten zwei Wehrmachtsbusse „organisiert und umlackiert“. Sie standen bereit. Auch die Fahrer, zwei „erfahrene“ Soldaten in Zivil.
Es waren nun mit uns 23 Personen im Bus, Kinder und Erwachsene. Mütter wie meine Mutter. Das verbindet. Da halten die Mütter zusammen. Und meine Mutter übernahm die Führung, die Organisation der weiteren Fahrt. Eine moderne Odyssee.
Die Erinnerung ist ein Zeitraffer.
Statt der Landschaftsbilder, die an uns vorüberzogen, aber in der Aufregung nicht zu fangen waren, flogen Ortsschilder vorbei, eine Litanei der Namen: Deggendorf, Plattling, Bogen, Wörth, Falkenstein, Schwandorf, Weiden, Kulmbach, Bamberg, Heldburg, Römhild, Hildburghausen, Meiningen, Schmalkalden, Eisenach, Eschwege.
Wir versuchten, die Namen auf der einzigen Wehrmachts-Karte, die uns zur Verfügung stand, wiederzufinden. Eine Gea-Übersichtskarte, 1: 2 000 000 mit dem Aufdruck: „Karten sind knapp -- bei Quartierwechsel mitnehmen.“
Stichwort: Quartierwechsel.
Wo finden wir ein Quartier für die nächste Nacht?
Wir mieden die Hauptstraßen, um den Militärkontrollen auszuweichen.
Fuhren abenteuerliche Nebenwege über die Dörfer. Da konnte der Bus unauffälliger abgestellt werden; er durfte ja nicht beschlagnahmt werden.
Jeder war sich selbst am nächsten, nahm sich, was er brauchen konnte. Der Bus musste bei Nacht bewacht werden, sonst konnte er am Morgen weg sein.
Wir schliefen bei Bauern in der Scheune. Wühlten uns im Stroh ein; die Sterne blinkten ungerührt durch löcherige Dächer. Wir hörten die Pferde in den Ställen stampfen, Schafeblöken.
Ich dachte an die Weihnachtsgeschichte. Maria und Joseph. Nur unser Joseph war nicht
dabei. Wo mochte er jetzt sein?
Unsere Mutter war eine Maria, die vier Kinder versorgen musste.
Und die sich verantwortlich fühlte für die Heimatlosen unserer Schicksalsgemeinschaft. Die
verloren allzu oft und zu schnell den Kopf.
Wir erschnorrten bei Bauern das Essen.
Viele ließen sich das gut bezahlen, wenn auch keiner wusste, was das Geld in dieser Zeit überhaupt noch wert war.
Oft wurden wir abgewiesen. 23 Personen, und dann noch die vielen Kinder dabei, das war
den meisten zu viel.
Verteilt euch doch auf mehrere Höfe, hieß es. Und: Es geht wirklich nur für eine Nacht. Und wenn wir euch unterbringen, ist das doch in Risiko für uns. Wer weiß, was für Nazis ihr gewesen seid. Ob die Männer, die ihr mitschleppt, nicht doch als Kriegsverbrecher gesucht werden, SS-Angehörige waren?
Mein Herz klopfte.
Ich wusste ja, dass drei Männer dabei waren, die vor der Flucht ihre Orden und Uniformen
vergraben hatten.
Merkwürdig, dass mich meine Ängste nicht auch noch in den Träumen jagten. Ich schlief
jede Nacht wie ein Sack, taumelte durch die Tage.
Unser Treibstoff wurde knapp, die mitgeführten Kanister leerten sich.
Wir mussten ein Ziel finden.
Mutter ließ abstimmen.
Die Mehrheit wollte nach Niedersachsen.
Dort wollte man sich trennen. Und so geschah es auch.
Es gab nur kurze schmerzlose Abschiede. Jedem blieben die eigenen Sorgen.
Mutter hatte einige Wochen vor unserer Flucht aus Rosenau einen Brief von Herrn Dr.
Gerhard Jungmann erhalten. Jungmann war ein alter Freund meines Vaters und praktischer
Ich hatte nichts dagegen, dass der Tag so strahlte.
Ich ahnte zum ersten Mal in meinem Leben: So fühlt sich der Frieden an.
Weich und warm.
Was die Zukunft und das Schicksal uns auch bringen würde, ich war frei und bereit.
Wach war ich im Jetzt und Hier.
Bereit war ich zu neuem Beginn.
Ich wagte den Anfang.
Von Knaggen und Triforien
Der maßlose Anspruch der gotischen Kathedral-Kunst, das Himmlische Jerusalem auf Erden zu errichten, musste wie alle derartigen Visionen scheitern. Das ist die Perspektive jedes menschlichen Strebens: der große Gedanke kämpft mit den irdischen Unzulänglichkeiten und zieht den Kürzeren. Dennoch bewundern wir gerade in der Gotik dasVollendete im Unvollendeten.
*
Zur Gotik passt das strenge Maßwerk der Bauhütten-Hierarchie, die bizarre Nomenklatur der Aufrisse mit den Fialen, Wimpergen, Triforien, Dinsten und Knaggen. Lotrecht ist das Linienwerk aller heiligen Entwürfe. Dass die Linien schließlich doch spitzwinklig aufeinanderstoßen müssen, wenn auch in höchster Höhe, ist nur ein Kompromiss.Trost spendet ausgerechnet eine mathematische Regel: Parallelen treffen sich erst im Unendlichen, also im Himmel.
*
Der verzückte Glaube der Gotik lässt den Leib des Menschen nur noch Gefäß der Seele sein. Gewandfalten ersetzen den Körper; aber die Gesichter der Statuen spiegeln die Himmels-Sehnsucht. Genauso verhält es sich mit der Architektur. Das Mauerwerk bricht auf. Der Leib der Kirche ist nur noch Gefäß für das Licht. In den Farben der zwölf Edelsteine der apokalyptischen Himmelsstadt durchdringt es den Raum.
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(aus: Wort und Bild und Kunst und Leben)
Jürgen Schwalm: "Die Botschaft", Hinterglasmalerei, 2013 |
Soeben erschien in der Husum Druck- und Verlagsgesellschaft die von Therese Chromik herausgegebene Euterpe-Anthologie BEGEGNUNGEN zum 90. Geburtstag von Bodo Heimann, für die 26 Autorinnen und Autoren Beiträge lieferten. Von Jürgen Schwalm erschien darin der Kurzprosatext "Der Weg zu uns" unter dem Motto: "Alle Mythen sind unsterblich und wiederholen sich in unserem Leben", eine moderne Variante der Irrfahrt des Odysseus.
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Amazonit (Grüner Mikroklin), Norwegen. Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm |
Hoffnung
Es bleibt uns trotz allem die Hoffnung auf einen neuen Bund. An einem schönen Frühlingstag etwa, angekündigt durch einen Regenbogen, der wieder alle Farben zeigt.
Zweifle ich auch bei allem Wechsel an der Gnade der Beständigkeit, so gibt es doch die Möglichkeit neuer Siege: dies ist der Glaube, der mich nicht sprachlos werden lässt.
Jürgen Schwalm
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Jürgen Schwalm
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Ein in Spektralfarben schimmernder Labradorit aus Tuléar /Madagaskar. Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm |
Blümerant
Ein nahezu vergessenes Modewort ist blümerant. Mit Blümchen hat das nichts zu tun. Aber mit BLAU. Blau wie der Himmel, wie das Meer. Kornblumenblau sind die Augen der Frauen beim Weine -, na, da wären wir ja schon mitten drin im Suff, der blau macht und unter Umständen auch blümerant. Es gibt Worte, die auf der Straße liegen: Zunächst läuft man sich die Schuhsohlen
darauf ab, und plötzlich sind sie nicht mehr wiederzufinden. Mir wird so blümerant. Mit diesem Seufzer wurden Ohnmachten eingeleitet, als noch Korsettstangen Wespentaillen quetschten. Aber auch Onkel Geier gebrauchte ihn, als er erfuhr, dass seine Firma Pleite ging. Wo bleiben solche Worte wie blümerant, wenn sie abgetreten sind? Um den Ursprung des Wortes blümerant aufzuspüren, müssen wir zum Anfang des 19.Jahrhunderts abtauchen: Deutschland stand unter französischer Besatzung, und für die war Blau halt Bleu. Bleu, bleu, bleu sind alle meine Kleider. Wenn das Bleu verschießt, wird es zum sterbenden Blau, zum Bleu mourant, das, zu blümerant verschlissen, schließlich in die Mottenkiste der Worte geworfen wird. Aber es gibt ja mehr und mehr Second-Hand-Shops. Und vielleicht erbarmt sich ein Teeny, der den alten Wortfummel wieder anziehen will? Die Kleidermode wiederholt sich bekanntlich ja auch immer wieder.
Jürgen Schwalm
Abb.1: Jürgen Schwalm: "Der Stoff, aus dem die Träume sind",
Hinterglasmalerei, 2011. Bleu mourant = sterbendes Blau war im 19.
Jahrhundert eine Modefarbe für Stoffe, nämlich ein helles Blau wie das
in den Kreisen des Bildes.
Abb.2: Darstellung einer "Wespentaille" In Friedrich Eduard Bilz (1842.1927). Leiter der Naturheilanstalt Dresden-Radebeul: "Das neue Naturheilverfahren", 100. Auflage, Leipzig, 1900. Eine "Wespentaille" zu haben, war besonders am Ende des 19. Jahrhunderts das Schönheitsideal der Frauen. Sie konnte nur durch rigoroses Schnüren von Korsagen erzielt werden und führte zu grotesken Verbiegungen im Brust- und Bauchbereich und Verlagerungen der inneren Organe.- Es lässt sich denken, dass den Frauen bei diesen Maßnahmen oft blümerant = übel wurde.
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Ulrikes Lieblings-Puppe, Foto: Jürgen Schwalm |
Jürgen Schwalm
Wenn mein Kind tanzt
in Trauer versunken,
weinen die Sterne:
Tränen fürs Knopfloch der Träume
über dem Herzen der Märchen.
(Dieses Gedicht schrieb ich 1966, nachdem ich meine damals fünfjährige Tochter
beobachtet hatte, wie sie ganz für sich nach einer nur für sie hörbaren Melodie weinend tanzte.)
Jürgen Schwalm
Winter-Lied
Dieser starre Zweig
und seine weiße Last.
Du kamst zurück,
mein liebster Morgenbote,
noch ohne Schwingen,
streiftest meinen Schnee ab,
schütteltest mein Gefieder.
Geh nicht wieder fort.
Ich schenk dir Flügel
mit meiner Stimme.
„Die Nächte des Orients“ widmete Schack meiner Ururgroßtante Hedwig Dragendorff (1807 – 1896) mit einem langen Eingangsgedicht. Hedwig Dragendorff war Gesellschafterin und Erzieherin im Elternhaus des jungen Adolf von Schack gewesen und blieb ihm zeitlebens freundschaftlich verbunden. Sowohl Hedwig Dragendorff als auch Schack schrieben und publizierten Erinnerungen, in denen sie -fast gleichlautend- ihrer gegenseitigen Zuneigung Ausdruck verliehen (s. hierzu: Jürgen Schwalm, Hedwig und Franziska Dragendorff, Lebensbilder aus dem 19. Jahrhundert, Seemann, 2022)
Soeben erschien, herausgegeben von Seemann Publishing Mazarron, der Almanach deutschsprachiger Schriftsteller-Ärzte 2025, 48. Jahrgang, in dem Beiträge von 29 Autorinnen und Autoren stehen. Jürgen Schwalm publizierte darin frühe Erinnerungen unter dem Titel Rückblenden:
Motto:
Das Kind fragt nicht nach dem Wert und dem Unwert der Dinge. Es spielt mit Glasscherben wie mit Edelsteinen. Es sieht in allem ein Geheimnis, ein Abenteuer, ein Versprechen. Es hält sich für unsterblich, es glaubt nicht an Kreuz und Tod. Es verachtet die Vernunft und die Realität und könnte deswegen den Erwachsenen zeigen, wie man überlebt.
Genealogisches Vorspiel – Ur-Stier und flüchtender Hirsch
Karl Ernst von Baer hatte 1828 als erster darauf hingewiesen, dass die Larven oder Embryos zweier unterschiedlicher Arten einander stärker ähneln als die erwachsenen Exemplare dieser Arten. Nach ähnlichen Beobachtungen formulierte Ernst Haeckel 1866 die vieldiskutierte biogenetische Grundregel: Die Ontogenese rekapituliert die Phylogenese. Damit wird - weniger gelehrt formuliert – behauptet, dass auch der Mensch während des Wachstums im Unterleib die evolutionäre Entwicklung vom Ei über den Kiemenatmer wiederholt. In diesem Zusammenhang wird oft die Kiemenspaltenphase erwähnt, die der menschliche Embryo durchläuft. Die biogenetische Regel wurde später erweitert durch die Ansicht, dass Kinder im Laufe ihrer Sozialisation Stadien der kulturellen Entwicklung des Menschen absolvieren… Mit dem Geburtsvorgang wiederholt sich der Schöpfungsakt…
Vor der Geburt
als ich die Höhle fand
gejagt
knochenbleich im ungegerbten Fell
das Steinbeil im Fleisch schweißnass
als ich den Spalt fand
Bei der Geburt
als ich gepresst wurde
und die Eihaut schlitzte
Nach der Geburt
als ich in der Felsenflucht den Blitz sah
mit Blut malte
die Fingersprache
mit scharfen Nägeln
in die Wände ritzte
Bannsprüche und Zauberzeichen
in die Nacht schleuderte
kienrußige Bilder
ins Flackerlicht rückte:
den Ur-Stier und den flüchtenden Hirsch…
Jürgen Schwalm: Äskulapstab, Hinterglasmalerei, 2019 |
Weltärztebund – Deklaration von Genf
Das ärztliche Gelöbnis
Als Mitglied der ärztlichen Profession gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.
Die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Patientin oder meines Patienten werden mein oberstes Anliegen sein.
Ich werde die Autonomie und die Würde meiner Patientin oder meines Patienten respektieren. Ich werde den höchsten Respekt vor menschlichem Leben wahren.
Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.
Ich werde die mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod der Patientin oder des Patienten hinaus wahren.
Ich werde meinen Beruf nach bestem Wissen und Gewissen, mit Würde und im Einklang mit guter medizinischer Praxis ausüben.
Ich werde die Ehre und die edlen Traditionen des ärztlichen Berufes fördern.
Ich werde meinen Lehrerinnen und Lehrern, meinen Kolleginnen und Kollegen und meinen Schülerinnen und Schülern die ihnen gebührende Achtung und Dankbarkeit erweisen.
Ich werde mein medizinisches Wissen zum Wohle der Patientin oder des Patienten und zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung teilen.
Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können.
Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.
Ich gelobe dies feierlich, aus freien Stücken und bei meiner Ehre.
Muschelschalen. Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm |
Jürgen Schwalm
An der Nordseeküste
Dem Grafiker und Maler Hans Rieder in Memoriam
Deine Wimpern
vernäht vom Schlaf langer Qual
sind zerteilt und durchzuckt
vom Küstenlicht aus Himmelszacken.
Dein Erwachen
beißt violett
in die Flanken der Dünen.
Nicht loslassen.
Verzahnt bleiben.
Hänge die Wolken ab
durchbreche den Wogenstrich.
Verwüte deine Farben
im Regen und in Meerwettern.
Ist der Sturm verweint
wird das Salz
von Muschelschalen aufgefangen
wie von geöffneten Händen.
(in: Jürgen Schwalm, Aus Nimmermehr ein Immermehr,
Breit-Verlag Marquartstein, 1977)
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Ludwig II von Bayern, Gemälde von Ferdinand Piloty (1828-1895) |
Jürgen Schwalm
Ludwig II
König der Bayern
Dies Bild lebt immer fort
tief im Gebirg in den Hütten,
wo die frommen Leut
den Herrgottswinkel im Auge behalten
und den einsamen König weiter verehren,
wie er im nächtlichen Schlitten
noch immer durch den dunklen Tann fährt,
allein mit seinem Herzensgeheimnis
und seinem grenzenlosen Heimweh,
dort, wo winters der Schnee
sich über die Almen breitet,
als weißes Tuch,
das sie zuletzt auch um seine Bahre gehüllt haben.
In Klangfluten versunken
hatte er sein Leben beendet,
aber seine Schlösser haben ihn überdauert
verschönt durch die Gnade verklärender Erinnerung.
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Verwehter Weg, Winterstudie von Alfred Gruber in der Illustrirten Zeitung vom 28. Januar 1932 |
Jürgen Schwalm
Weiße Festung
Stürme halten die Hügel umstellt.
Mein Haus ist zur weißen Festung geworden.
Versiegelt ist das beschriebene Buch meines Lebens.
Die Brücken schneiten ein.
Da kommt doch plötzlich eine Nachricht von dir,
und ich bin nicht mehr sicher vor mir:
Ich spüre voll Glück, dass das Eis in mir schmilzt.
(Urform in: Jürgen Schwalm, Aus Nimmermehr ein Immermehr,
Gedichte, Verlag Theo Breit, Marquartstein, 1977)
Blauer Vogel, Wandkachel. Sammlung und Foto: Jürgen Schwalm |
Jürgen Schwalm
Die Liebe ist ein Vogel
(einem niederdeutschen Volkslied nacherzählt)
1. Sie – ein munterer Vogel – hatte sich zu ihm verflogen und saß nun im Käfig
seines Herzens gefangen, denn er hatte dessen Tür schnell zugeschlagen.
2. Wie sie in ihm mit den Flügeln flatterte, wurde ihm ganz sonderbar. Aus Mitleid
öffnete er die Herzenstür noch einmal einen kleinen Spalt; da war sie flugs
herausgeflogen.
3. Er sehnte sich nach ihr und wollte sie wiederbekommen. Sie aber wollte es
vertraglich haben: Sie kehre gern zu ihm zurück, doch müsse seine
Herzenstür am Tag und in der Nacht für sie stets unverschlossen bleiben.
4. Er tat’s und hat
es später schwer bereut, denn die meiste Zeit der Jahre war
sie kaum bei ihm zu Haus gewesen.
(Urform in: Jürgen Schwalm: Aus Nimmermehr ein Immermehr,
Breit-Verlag 1977)